UK: Starmer zum Premier ernannt & erste Finanzministerin
Machtwechsel in Großbritannien: Bei der Unterhauswahl hat die oppositionelle Labour Party einen Erdrutschsieg in Form der absoluten Mehrheit erzielt und wird einer BBC-Prognose zufolge künftig 405 der 650 Sitze stellen. "Das Volk ist bereit für den Wandel. Jetzt ist die Zeit, dass wir umsetzen", sagte Labour-Chef Keir Starmer in der Nacht auf Freitag. Die Konservativen von Premier Rishi Sunak wurden vernichtend geschlagen, dem rechtspopulistischen Brexit-Vorkämpfer Nigel Farage gelang der Parlamentseinzug.
Staatsoberhaupt König Charles III. hat Starmer am Freitagmittag zum neuen Premierminister des Landes ernannt und mit der Regierungsbildung beauftragt, erklärte der Palast. Zuvor hatte Charles den Rücktritt von Sunak entgegengenommen
Rishi Sunak tritt als Parteichef zurück
Der britische Regierungschef Rishi Sunak hat die Niederlage seiner Konservativen bei der Unterhauswahl eingestanden. "Die Labour Party hat diese Wahl gewonnen", sagte Sunak am Freitag in der Früh im nordenglischen Richmond. "Ich habe bereits Keir Starmer angerufen, um ihm zu gratulieren. Heute wird die Macht auf friedliche Art und Weise übergeben werden." Sunak äußerte sich, nachdem er seinen Wahlkreis in der Region Yorkshire mit einer deutlichen Mehrheit verteidigen konnte.
Nach der Niederlage will Sunak erwartungsgemäß auch den Parteivorsitz abgeben. Das kündigte er am Freitag in London an.
Sunak kündigte an, weiterhin Parlamentsabgeordneter bleiben zu wollen. Künftig werde er mehr Zeit mit den Bewohnern seines Wahlkreises verbringen. Er übernehme aber die Verantwortung für die Wahlniederlage, sagte der scheidende Regierungschef noch vor Auszählung aller Wahlkreise. Praktisch zeitgleich wurde bekannt, dass auch Finanzminister Jeremy Hunt seinen wackelnden Unterhaussitz verteidigen konnte. Weil mit Verteidigungsminister Grant Shapps und der früheren Ministerin Penny Mordaunt zwei wichtige Kontrahenten ihre Mandate verloren, kristallisierte sich Hunt als möglicher Nachfolger Sunaks heraus.
Nachdem eine erste Wählerbefragung die Tories bei einem historischen Tiefstand von 131 Mandaten verortet hatte, könnte es für die bisherige Regierungspartei in der Endabrechnung doch nicht so schlimm kommen. Eine nach Auszählung von rund der Hälfte der Wahlkreise aktualisierte BBC-Prognose sah die Konservativen am Freitag in der Früh bei 154 Mandaten.
Die Liberaldemokraten würden demnach mit 56 Sitzen drittstärkste Kraft, die Schottische Nationalpartei erhielte sechs Sitze und die rechtspopulistische Reform UK vier.
Größter Sieger des Abends war Farage
Größter Sieger des Abends schien der frühere langjährige Europaabgeordnete Farage zu sein, der sich sieben Mal erfolglos um ein Unterhausmandat beworben hatte. Nun gelang ihm in der Brexit-Hochburg Clacton-on-Sea mit 46,2 Prozent der Stimmen der Einzug ins britische Parlament. Der konservative Amtsinhaber Giles Watling büßte dort 44 Prozentpunkte auf 27,9 Prozent ein. Vor Farage war der Tory-Überläufer Lee Anderson im mittelenglischen Ashfield zum Wahlsieger erklärt worden. Der von den Tories wegen muslimfeindlicher Äußerungen suspendierte Anderson wurde damit zum ersten gewählten rechtspopulistischen Abgeordneten Großbritanniens.
"Das ist nur der erste Schritt von etwas, das euch alle schockieren wird", sagte Farage in seiner Siegesrede. Im rechten politischen Spektrum gebe es eine "massive Lücke, und meine Aufgabe ist es, sie zu füllen". "Diese Labour-Regierung wird schon sehr bald in Schwierigkeiten stecken", kündigte Farage mit Blick auf die siegreiche Oppositionspartei an. Er wolle Labour die Wähler abspenstig machen, zumal es schon bei dieser Wahl keinerlei Enthusiasmus für die Partei gegeben habe. Stattdessen sei Reform UK innerhalb von wenigen Wochen und ohne finanzielle Mittel "etwas wirklich Außerordentliches" gelungen. "Wir sind in hunderten Wahlkreisen an zweiter Stelle gelandet."
Tatsächlich erklärte ein BBC-Moderator das starke Abschneiden von Reform UK zur "Geschichte des Abends". Landesweit stand sie nach Auszählung von knapp der Hälfte der Wahlkreise bei 15,6 Prozent der Stimmen. In zahlreichen Wahlkreisen konnte sie die Tories überflügeln und trug damit wesentlich zu Labour-Erfolgen bei. Mehrere konservative Kabinettsmitglieder, darunter der populäre Verteidigungsminister Grant Shapps, verloren ihre Mandate. Auch die mögliche Bewerberin für den Tory-Parteivorsitz, Penny Mordaunt, verfehlte den Wiedereinzug ins Parlament.
Dämpfer für Labour
Auch für Labour setzte es den einen oder anderen Dämpfer. So musste ausgerechnet Parteichef Starmer in seinem Wahlkreis wegen eines Protestvotums gegen seine Palästinapolitik einen massiven Verlust hinnehmen. Wenig Freude dürfte Starmer auch damit haben, dass sein Vorgänger Jeremy Corbyn seinen Londoner Wahlkreis Islington North als unabhängiger Kandidat verteidigten konnte. Corbyn war von 2015 bis 2020 Chef der britischen Sozialdemokraten und machte dabei keine gute Figur: Parteikollegen machten ihn mitverantwortlich für den Brexit, vier Jahre später fuhr er eine historische Wahlniederlage ein. Aus der Partei geworfen wurde er, weil er nicht energisch genug gegen antisemitische Tendenzen vorging.
Der Wahlkampf von Labour-Chef Starmer konzentrierte sich auf das Versprechen, nach 14 Regierungsjahren der Tories einen "Wandel" herbeizuführen. Damit spielte er auf die Wut vieler Briten über den schlechten Zustand des öffentlichen Dienstes etwa im Gesundheitswesen und über den seit Jahren sinkenden Lebensstandard an. Vielen Briten war es auch ein Anliegen, den regierenden Konservativen einen Denkzettel für den während ihrer Amtszeit erfolgten EU-Austritt Großbritanniens zu verpassen.
Liz Truss verliert Sitz im Unterhaus
Die frühere britische Premierministerin Liz Truss hat ihren Sitz im britischen Unterhaus verloren. Die 48-Jährige musste sich in ihrem Wahlkreis South West Norfolk dem Herausforderer der Labour Party geschlagen geben. Die konservative Politikerin ist als Premierministerin mit der kürzesten Amtszeit Großbritanniens in die Geschichte eingegangen. Sie behielt die Schlüssel zum Regierungssitz 10 Downing Street nur 49 Tage lang, nachdem sie 2022 Boris Johnson beerbt hatte.
Eine Boulevardzeitung hatte damals als Scherz bei ihrem Amtsantritt einen Salatkopf neben einem Foto der damaligen Regierungschefin platziert und die Szene per Livestream ins Internet gestellt. Es ging darum, was länger währt, der Salat oder Truss als Premierministerin. Der Salat gewann.
Truss musste im Oktober 2022 zurücktreten, nachdem ihre Ankündigung massiver Steuersenkungen eine Krise an den Finanzmärkten ausgelöst hatte. Nach ihrem Auszug aus der Downing Street rückte sie weiter ins rechtspopulistische Lager und machte eine angebliche linksliberale Verschwörung für ihr Scheitern verantwortlich.
Rachel Reeves wird erste britische Finanzministerin
Rachel Reeves ist die erste Finanzministerin der britischen Geschichte. Der neue Premierminister Keir Starmer ernannte die 45-Jährige in London zur Schatzkanzlerin. Reeves arbeitete einst für die Zentralbank Bank of England und gilt aus ausgewiesene Wirtschaftswissenschaftlerin. Das Amt gibt es seit rund 800 Jahren, wie britische Medien betonten.
Reeves wird dafür verantwortlich sein, die strengen Haushaltsregeln von Starmers Labour-Partei einzuhalten und zugleich einige Steuererhöhungen durchzusetzen. Dazu gehört, Steuerschlupflöcher für wohlhabende Ausländer und Privatschulen zu schließen sowie die Übergewinnsteuer für Öl- und Gaskonzerne auszuweiten, um Starmers Pläne zu finanzieren.
Rayner wird stellvertretende Premierministerin, Lammy neuer Außenminister
Mit Labour-Vize Angela Rayner übernimmt eine weitere Frau ein wichtiges Regierungsamt. Die 44-Jährige ist neue stellvertretende Premierministerin und zudem als Ministerin zuständig für die schwierigen Themen Wohnungsbau sowie "Levelling Up". Damit ist die Angleichung der Lebensverhältnisse im Land gemeint.
Neuer Außenminister ist David Lammy. Yvette Cooper muss sich als Innenministerin vor allem darum kümmern, die hohe Zahl irregulärer Migranten über den Ärmelkanal zu senken.
Der Regierungswechsel wird in Großbritannien rasch vollzogen. Sobald das amtliche Endergebnis feststeht, kommt es zur Machtübergabe. Schon im Laufe des Freitags wurde Starmer von König Charles III. mit der Regierungsbildung beauftragt und legte anschließend bei einer Rede in der Downing Street seine Vision für Großbritannien dar.