So festgefahren ist die Lage an der ukrainischen Front
Seit fast 21 Monaten verteidigt sich die Ukraine mit westlicher Militärhilfe gegen den russischen Angriffskrieg.
Russische Soldaten besetzen weiterhin den Osten der Ukraine. Die Ukraine möchte die (teilweise) besetzten Gebiete Cherson, Saporischschja, Luhansk und Donezk zurückerobern, doch scheint das Ziel aktuell noch in weiter Ferne.
Die Ukraine blieb mit ihrer Gegenoffensive bisher hinter den eigenen Erwartungen zurück. An der Front im Osten und Süden gibt es kaum wesentliche Fortschritte für eine der beiden Kriegsparteien.
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Die Front sei festgefahren, wie im Ersten Weltkrieg, so bezeichnete es der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, General Walerij Saluschnyj unlängst: "Wie im Ersten Weltkrieg haben wir ein technologisches Niveau erreicht, das uns in eine Pattsituation bringt."
Er warnte vor einem Stellungskrieg: "Ein Stellungskrieg dauert lange und birgt enorme Risiken für die Streitkräfte der Ukraine und für den Staat."
Besonders schwer umkämpft sind aktuell die Städte Kupjansk im Gebiet Charkiw sowie Awdijiwka und Bachmut im Gebiet Donezk.
Auch wenn die Ukraine selbst von einer komplexen und schwierigen Situation an der Front spricht, Experten des Instituts für Kriegsstudien (ISW) werten es als Erfolg, dass sich die ukrainischen Truppen an der linken Uferseite des Dnipro im Gebiet Cherson festsetzen konnten - Stellungen, die bisher von russischen Truppen gehalten wurden.
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Seit Oktober gebe es dort außergewöhnlich starke Kampfhandlungen der ukrainischen Verteidiger, die ihre Positionen auf der Uferseite hielten und die Truppen dort weiter versorgen könnten, hieß es in der ISW-Analyse.
Russische Staatsmedien hatten zuletzt kurz darüber berichtet, dass Moskaus Truppen sich dort zurückziehen müssten, dann aber diese Meldungen zurückgezogen. Die Rede war von einer angeblichen ukrainischen Provokation.
Militärexperte: Front nicht komplett festgefahren"
Den Vergleich mit dem Ersten Weltkrieg sieht Franz-Stefan Gady im Ö1-Morgenjournal des ORF als nicht ganz richtig an. Der Militäranalyst war in den letzten Wochen an der ukrainischen Front unterwegs und ist nun wieder in Österreich.
So seien die Kämpfe in der Ukraine doch dynamischer, auch würden nicht so große Truppenkontingente aufeinandertreffen, wie im WK I. Grundsätzlich sei es aber schon so, dass keine der beiden Seiten in den nächsten Wochen größere Durchbrüche zu erwarten habe, so Gady.
Die Front verschiebe sich zwar nicht großartig, aber "komplett festgefahren" sieht der Militärexperte die Situation nicht. "Beide Seiten versuchen noch anzugreifen, beide Seiten verteidigen."
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"Es bleibt ein Abnützungskrieg"
Sowohl die russischen, als auch die ukrainischen Streifkräfte seien aktuell "erschöpft", beide Seiten hätten "limitiertes offensives Potenzial".
"Es bleibt ein Abnützungskrieg", so Gady. Entsprechend gehe es für beide Seite darum, der jeweils anderen Seite möglichst viele oder hohe Verluste zuzufügen.
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Gady schildert im Morgenjournal an einem Beispiel, was es heißt, in einem Abnützungskrieg zu kämpfen. Im Juli war Gady bei einer ukrainischen Einheit an einer Angriffsachse. Damals wies die Truppe noch die gesamte Sollstärke auf.
Wenige Monate später war Gady bei derselben Einheit und hat sich bei einem Unteroffizier, mit dem er Wochen zuvor schon gesprochen hatte, noch einmal vorgestellt. Gady hatte ihn schlicht nicht mehr erkannt. "Die Gesichtszüge waren einfach komplett anders: gealtert, grau, eingefallen."
Soldaten leisten "Unmenschliches"
Obwohl Gady selbst im Irak und in Afghanistan war, so etwas wie an der Front in der Ukraine habe er noch nicht erlebt: "das kontinuierliche Bombardement, die kontinuierliche Angst, dass eine Granate einschlagen kann".
Dass ukrainische Soldaten in so einem Umfeld dann auch noch zum Angriff überzugehen, verlangt "Übermenschliches von den Soldaten."
Die westlichen Hilfslieferungen sieht Gady vorerst nicht in Gefahr, sie würden unvermindert weiterlaufen. Aber: 2024 könnten militärische und politische Ziele auseinanderdriften, so der Militärexperte.
Militärisch wäre es für die Ukraine gut, 2024 in die Defensive zu gehen, die Streitkräfte wieder aufzubauen und sich die Kampfkraft für spätere Offensiven (2024 bzw. 2025) zu erhalten.
Auf der anderen Seite stehen demnach der politische Druck, Erfolge zu zeigen. Dieser Druck herrsche sowohl innerhalb der Ukraine als auch gegenüber westlichen Partnern. Das könnte zu Spannungen führen.
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Taktisch und operativ sei es aktuell für die Ukraine schwierig, nicht genau zu wissen, wann man wieviel Munition oder Kriegsgerät erhalte. Für die ersten paar Monate des nächsten Jahres rechnet Gady mit einem "deutlichen" Mangel, er nennt es "Defizit" an Munition, Munitionsarten, was die Artillerie betrifft. Russland werde hier überlegen sein.
Langfristig sollte sich dieses Defizit dann ausgleichen und dann sollte auch die Ukraine wieder an der Front den Russen überlegen sein können.