Putins Propaganda-Pläne für das eingenommene Cherson
Es ist die größte bisher von der russischen Armee eingenommene ukrainische Stadt: die Seehafenstadt Cherson in der Südostukraine; 280.000 Menschen leben hier. Oder lebten hier vor der russischen Invasion.
Jetzt sieht man den Krieg an jeder Ecke, in jeder Straße der Stadt. Fotos zeigen zerbombte Häuser, verwüstete Geschäfte, menschenleere Gassen. Die Bevölkerung ist geflüchtet oder sucht Schutz in Keller, Bunkern oder U-Bahn-Schächten. Die Stadt war zuvor heftig umkämpft gewesen.
Was liegt Putin an Cherson? Warum wollte er diese Stadt scheinbar unbedingt in russischer Hand sehen?
Die Oblast Cherson spielt aufgrund ihrer geografischen Nähe zur 2014 annektierten Halbinsel Krim eine strategisch wichtige Rolle für die Bewässerung dieser: Über den Nord-Krim-Kanal war in den letzten Jahren kein Wasser nach Süden geflossen.
Auch historisch – und spätestens seit seiner Rede zur Anerkennung der Separatistengebiete weiß man, wie wichtig Putin "sein" Geschichtsverständnis ist – ist Cherson für Russland bedeutsam: Die Stadt unweit der Dnepr-Mündung wurde 1776 gegründet. Der berühmte russische Stadtgründer Grigori Potjomkin (1739-1791), bekannt auch als Liebhaber von Zarin Katherina der Großen und als Namensgeber der "Potemkinschen Dörfer", liegt in Cherson begraben.
Doch Putin dürfte die Stadt auch für einen weiteren Zweck unbedingt einnehmen haben wollen.
Putins Propaganda-Plan
Die Indizien mehren sich, dass die Stadt auf eine größere Propagandaoperation vorbereitet werden könnte: Wagenkolonnen mit Zivilisten seien in der Nacht auf Freitag von der benachbarten Krim nach Cherson transportiert worden; es sei womöglich geplant, mit ihnen eine große Demonstration zu organisieren, sagte ein Bewohner der Stadt der APA am Vormittag.
Diese herangekarrten "Darsteller", bei denen es sich um keine Stadtbewohner handle, könnten etwa den Anschluss der ukrainischen Region Cherson an die Krim verlangen. Laut anderen Spekulationen könnte auch die Ausrufung einer "Chersoner Volksrepublik" geplant sein.
Abgesehen davon plane Russland die öffentliche Verteilung von humanitären Gütern, um Bilder zu erzeugen, dass sich die Bewohner der Stadt über die russische "Befreiung" freuten und glücklich seien, ein nazistisches Regime abgeschüttelt zu haben. "Das ist alles eine Propagandaoperation des russischen Geheimdiensts FSB", mutmaßte der Ukrainer.
Tatsache ist jedoch, dass die Bevölkerung der Stadt derzeit wirklich jede humanitäre Hilfe gebrauchen kann, die es gibt: "Menschen sterben in den Kellern, weil es keine medizinische Hilfe gibt", erzählte ein Mann. Sollte es in den nächsten Tagen zur Verteilung russischer Hilfsgüter kommen, könnte es sich die Bevölkerung nicht leisten, diese abzulehnen. Das würde Putin in die Karten spielen und seiner forcierten Darstellung des Angriffskrieges als "Denazifikation" entsprechen.
Derartige propagandistische Bemühungen würden gleichzeitig aber auch suggerieren, dass Russland eine langfristige Kontrolle oder Besetzung der konkreten Region plant.