Nach 20 Jahren endet Afghanistan-Mission: USA verkünden vollständigen Abzug
Generalmajor Chris Donahue war der letzte. Kurz vor Montag Mitternacht bestieg der Kommandeur der 82. Luftlandedivision das Militärflugzeug vom Typ C-17 und war somit der (vorerst) letzte US-Soldat auf afghanischem Boden. Nach fast 20 Jahren endete damit der verlustreiche Einsatz der USA und ihrer Verbündeten in dem Krisenland.
Mit Abzug der Amerikaner endet auch die militärische Evakuierungsmission der vergangenen zwei Wochen. Die Sicherheitslage war bis zum Schluss prekär: Kurz vor dem Abzug hatte der afghanische Ableger der Terrormiliz IS Raketen auf den Kabuler Flughafen abgefeuert.
Der für die Region verantwortliche US-General Kenneth McKenzie betonte, nun sei kein einziger US-Soldat mehr in Afghanistan.
Gleichzeitig musste er einräumen, dass es nicht gelungen ist, alle Menschen in Sicherheit zu bringen. "Wir haben nicht alle rausgeholt, die wir rausholen wollten."
123.000 Menschen evakuiert
Nach der Machtübernahme der Taliban Mitte August hatten die USA und ihre internationalen Partner mit der Evakuierungsmission begonnen und bis zum Schluss insgesamt mehr als 123.000 Menschen außer Landes gebracht. Mehr als 79.000 Zivilisten wurden vom US-Militär aus Kabul ausgeflogen, darunter rund 6.000 Amerikaner.
Immer noch befinden sich aber Zehntausende Menschen in Afghanistan, die vor den Taliban fliehen wollen - bei den meisten davon handelt es sich im Afghanen. Was aus ihnen jetzt wird, ist ungewiss.
Zwischen 100 und 200 Amerikaner in Afghanistan
Nach Einschätzung des US-Außenministeriums sind noch zwischen 100 und 200 Amerikaner in Afghanistan, die das Land verlassen wollen. Biden hatte allen ausreisewilligen US-Bürgern versprochen, sie aus Afghanistan herauszuholen.
Der Präsident und sein Außenminister Antony Blinken versicherten nach dem Abschluss des Truppenabzugs, die US-Regierung werde weiter alles daran setzen, zurückgebliebene Amerikaner, aber auch andere Ausländer und schutzbedürftige Afghanen aus dem Land zu holen - nun eben mit diplomatischen statt mit militärischen Mitteln. Doch wie genau das geschehen soll, ist unklar.
Biden-Rede am Dienstag
Biden äußerte sich zunächst nur in einer schriftlichen Stellungnahme, in der er seine umstrittene Abzugsentscheidung erneut verteidigte. Dass der Oberbefehlshaber einen derart historischen Moment nicht selbst verkündet, ist bezeichnend. Biden ist angesichts des chaotischen Abzuges heftiger Kritik ausgesetzt. Das Afghanistan-Debakel ist die bisher größte außenpolitische Krise seiner Präsidentschaft. Am Dienstag will er sich an die Amerikaner wenden.
Diplomatische Aktivitäten der USA nun von Doha aus
US-Außenminister Blinken betonte indes: "Die Militärmission ist beendet. Ein neue diplomatische Mission hat begonnen." Diese wird jedoch aus der Ferne zu steuern sein. Denn mit dem Abzug der US-Truppen gaben die Amerikaner auch ihre diplomatische Präsenz in Afghanistan auf. An Bord der letzten Militärmaschine war Ross Wilson, der bisherige US-Botschafter in Afghanistan. Blinken sagte, die USA hätten ihre diplomatischen Aktivitäten nun in Katars Hauptstadt Doha verlegt.
Taliban wollen gute" Beziehungen zu USA
Nach dem Abzug der US-Truppen wollen die radikalislamischen Taliban nach eigenen Angaben "gute" Beziehungen mit den USA. "Wir wollen gute Beziehungen zu den USA und der ganzen Welt haben", sagte der Taliban-Sprecher Sabihullah Mujahid am Dienstag bei einer Rede am Flughafen in Kabul. "Wir begrüßen gute diplomatische Beziehungen mit allen."
Die Taliban reagierten mit Jubel auf den Abzug. Taliban-Sprecher Mujahid schrieb zudem auf Twitter, das Land habe jetzt völlige Unabhängigkeit erreicht. Das hochrangige Taliban-Mitglied Anas Haqqani twitterte: "Wir schreiben wieder Geschichte. Die 20-jährige Besetzung Afghanistans durch die USA und die NATO endete heute Abend. Gott ist groß."
UN erhöht Druck auf Taliban
Die USA und die westlichen Partner haben wiederholt betont, dass es auch nach dem Ende des Einsatzes die Möglichkeit geben soll, Menschen in Sicherheit zu bringen. Der UN-Sicherheitsrat erhöhte am Montag den Druck auf die militant-islamistischen Taliban in Afghanistan, die Menschenrechte zu wahren und Ausreisewillige ungehindert passieren zu lassen. In seltener Einigkeit verabschiedete das mächtigste UN-Gremium eine entsprechende Resolution.
US-Soldaten zerstören Kriegsgerät
Und um zu verhindern, dass den Taliban oder anderen islamistischen Gruppen noch mehr hochmodernes Kriegsgerät in die Hände fällt, vernichteten die US-Soldaten am Kabuler Flughafen vor ihrem endgültigen Abzug unter anderem noch 27 Humvees und 70 gepanzerte MRAP-Fahrzeuge zum Stückpreis von einer Million Dollar. Auch 73 Flugzeuge wurden funktionsunfähig gemacht.
Afghanistan-Mission startete nach 9/11
Ausländische Truppen waren unter US-Führung vor 20 Jahren in Afghanistan einmarschiert - als Antwort auf die Terroranschläge von Al-Kaida-Terroristen vom 11. September 2001. Der internationale Einsatz führte damals zum Sturz der Taliban-Regierung, die Al-Kaida-Terroristen Unterschlupf gewährt hatte.
Der Militäreinsatz verschlang Unsummen, Zehntausende Zivilisten und afghanische Sicherheitskräfte kamen ums Leben, ebenso wie mehrere Tausend internationale Soldaten, darunter 2.461 Amerikaner. McKenzie betonte am Montag, der Preis für die Mission sei hoch gewesen.
US-Präsident Biden hatte im April angekündigt, alle US-Soldaten spätestens bis zum 11. September bedingungslos aus Afghanistan abzuziehen. Das Datum markiert den 20. Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001, die den US-geführten Militäreinsatz in Afghanistan auslösten. Auch die Nato kündigte daraufhin an, den von ihr geführten internationalen Einsatz zu beenden.
Im Juli zog Biden das Datum für das vollständigen Abzug auf den 31. August vor.
Im August ging alles schnell
Nach Bidens Ankündigung legte der Siegeszug der Taliban noch an Geschwindigkeit zu, die militanten Islamisten übernahmen eine Provinzhauptstadt nach der anderen - oftmals leisteten die afghanischen Sicherheitskräfte wenig oder keinen Widerstand. Am 15. August floh der afghanische Präsident Aschraf Ghani ins Ausland, die Taliban marschierten kampflos in der afghanischen Hauptstadt Kabul ein und besetzten den Präsidentenpalast. Die US-Botschaft wurde geschlossen, die Diplomaten flohen an den Flughafen.
Der Flughafen in Kabul blieb auch nach der Machtübernahme der Taliban unter Kontrolle der US-Truppen. Die USA flogen 5.000 zusätzliche Soldaten ein, um die Evakuierungen abzusichern. US-Kommandeure koordinierten sich dabei mit den Taliban.
Bei einem Anschlag des IS, der mit den Taliban verfeindet ist, wurden am vergangenen Donnerstag vor dem Flughafen schließlich Dutzende Afghanen und 13 US-Soldaten getötet. Amerikas längster Krieg endete auf besonders düstere Weise.