Brexit-Chaos: Neuwahlen als letzte Waffe Johnsons
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Das britische Unterhaus ebnete am Dienstag den Weg für ein Gesetz gegen einen ungeregelten Brexit - eine schwere Niederlage für
Johnson
- Der Tory-Abgeordnete Phillip Lee verließ am Dienstag demonstrativ seine Fraktion - damit ist Johnsons bisher knappe Regierungsmehrheit weg
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Johnson bleibt dabei, dass
Großbritannien notfalls ohne Deal mit der
EU bis 31. Oktober die Union verlassen soll
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Der britische Premier Boris Johnson schlägt für den 15. Oktober vorgezogene Neuwahlen vor
- Um 20 Uhr ist eine Abstimmung über das Gesetz vorgesehen, der einen Austritt ohne Abkommen verhindern soll, seit 16 Uhr wird darüber debattiert
Live-Stream aus britischem Parlament
Nach der Niederlage Dienstagabend und der Aussicht auf die Verabschiedung eines Gesetzes heute Abend, das einen No-Deal-Brexit verhindern soll, versucht der britische Premier Boris Johnson das Ruder wieder an sich zu reißen.
Bei der Debatte im britischen Unterhaus hatte Johnson am Mittwoch vorgezogene Neuwahlen für den 15. Oktober vorgeschlagen. Johnson sagte in der hitzigen Parlamentsdebatte, wenn Labour-Chef Jeremy Corbyn ein Gesetz gegen die Brexit-Strategie seiner Regierung unterstütze, müsse die Bevölkerung "ihre Sichtweise" zum Ausdruck bringen können.
Für das Ansetzen vorgezogener Neuwahlen benötigt Johnson eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Unterhaus. Gegen seinen Willen werden die Abgeordneten am Mittwochabend über einen Gesetzentwurf abstimmen, der einen No-Deal-Brexit, also einen EU-Austritt Großbritanniens ohne Abkommen, verhindern soll.
Sollte vor dem 31. Oktober kein Abkommen mit der EU gebilligt werden, so verpflichtet das Vorhaben den Regierungschef, in Brüssel noch einmal einen dreimonatigen Aufschub des Brexit zu beantragen.
Der Premierminister hatte mehrfach erklärt, die EU am 31. Oktober verlassen zu wollen - und dies notfalls auch ohne Abkommen. Die Gegner in der Opposition, aber auch in der eigenen konservativen Partei fürchten in diesem Fall verheerende wirtschaftliche Folgen für Großbritannien.
Im Fall von Neuwahlen könnte die Regierungsbildung in London noch vor dem 31. Oktober vonstattengehen. Für den 17. und 18. Oktober ist ein EU-Gipfel angesetzt.
Gesetz gegen No-Deal-Brexit nimmt weitere Hürde
Am Dienstagabend erzwangen Abgeordnete der Opposition und 21 Rebellen von den Tories in London, dass das Unterhaus über einen Gesetzentwurf zu einer möglichen Brexit-Verlängerung abstimmen kann. Der Brexit dürfte wohl auf Jänner verschoben werden.
Die Gegner eines ungeordneten EU-Austritts im britischen Parlament haben Premierminister Boris Johnson eine erneute Niederlage bereitet. Die Abgeordneten stimmten am Mittwoch in zweiter Lesung mehrheitlich für ein Gesetz, das einen No-Deal-Brexit am 31. Oktober verhindern soll. Sie konnten ihre Mehrheit gegenüber dem Vortag sogar noch um zwei Stimmen ausbauen.
Dem Vorwurf Jeremy Corbyns von der Partei Labour, dass Johnson keine substanziellen Verhandlungen mit den EU-Staaten führen würde und planlos sei, widersprach Johnson vehement. Er unterstellte Corbyn, dass dieser mit einer teuren Verzögerungstaktik die Verhandlungen untergraben würde. "Ich kann nicht sehen, wie ich die Verhandlungen untergraben sollte, weil es keine Verhandlungen gibt", antwortete Corbyn und erntete Applaus. "Er hat keinen Plan, keine Autorität und keine Mehrheit", legte Corbyn nach.
Entscheidende Abstimmungen gegen 20 Uhr
Derzeit sind viele Fragen offen. Jedenfalls dürfte heute, Mittwoch, der Gesetzesentwurf für eine Verschiebung des Brexit im britischen Unterhaus beschlossen werden. Die Abstimmungen dürften voraussichtlich um 20 Uhr beginnen, für 16 Uhr ist die Debatte über den Entwurf des Gesetzes avisiert.
Neuwahlen?
Johnson hatte am Dienstag bereits angekündigt, er werde vorgezogene Neuwahlen beantragen, falls die Abgeordneten wirklich am Mittwoch das Gesetz gegen den harten Brexit beschließen. Planmäßig würde die nächste Wahl in Großbritannien erst 2022 stattfinden. Parlamentswahlen vor dem 31. Oktober wären theoretisch möglich, der Weg dorthin ist jedoch schwierig.
Zwei Drittel der Mitglieder des Unterhauses müssten für einen Antrag Johnsons stimmen. Durch eine "königliche Proklamation" wird das Unterhaus dann aufgelöst, 25 Werktage später ist Wahltag.
Zumindest die Labour-Partei hat bereits im Vorfeld angekündigt, ihm für einen Neuwahlantrag keine Unterstützung zu geben. Die Suche nach Mehrheiten verlief zuletzt grundsätzlich wenig zufriedenstellend für den 55-jährigen Johnson.
21 Abgeordnete rebellierten gegen Johnson
328 Abgeordnete votierten am Dienstag gegen ihn, darunter auch 21 Parteikollegen von den konservativen Tories. Johnson zeigte sich empört, der Guardian zitierte seine Reaktion wie folgt: "Pifflepafflewifflewaffle". Und wer Dienstagabend noch gedacht hatte, dass Johnson den Dialog mit seinen 21 Parteikollegen suchen würde, der lag daneben: Alle 21 Personen wurden gefeuert.
Das dürfte die Fronten innerhalb der ohnehin gespaltenen Fraktion verhärten. Unter den 21 ausgeschlossenen Abgeordneten sind mehrere Ex-Minister und auch der Enkel von Winston Churchill. Die Ausgeschlossenen mussten sogar die Whatsapp-Gruppen der Fraktion verlassen.
Überraschend fröhlich präsentierte sich Dienstagnacht indes Ex-Premierministerin Theresa May. Diverse Kommentatoren unterstellten ihr gar Schadenfreude.
Schottisches Gericht lehnte Klage gegen Zwangspause ab
Das oberste schottische Zivilgericht hat indes eine Klage gegen die von Premierminister Boris Johnson erwirkte mehrwöchige Zwangspause des britischen Parlaments abgelehnt. Das berichtete die Nachrichtenagentur PA am Mittwoch aus dem Gerichtssaal in Edinburgh.
Geklagt hatten etwa 75 Parlamentarier. Sie sehen in der von Johnson erwirkten wochenlangen Schließung des Unterhauses vor dem am 31. Oktober anstehenden EU-Austritt des Landes eine unzulässige Einschränkung des Parlaments. Ähnliche Klagen wurden auch vor Gerichten im nordirischen Belfast und in London eingereicht.
Am Donnerstag sollte der Fall vor dem High Court in der britischen Hauptstadt verhandelt werden. Ein letztinstanzliches Urteil dürfte aber am Ende der Supreme Court fällen. Der Klage in London hatte sich auch der frühere konservative Premier John Major angeschlossen.
Rees-Mogg machte sich lang
Johnsons Parteikollegen und Brexit-Hardliner Jacob Rees-Mogg schien die Debatte am Dienstag eher zu langweilen. Als Geste der Verachtung werteten zahlreiche Abgeordnete, wie sich Rees-Mogg am Dienstagabend im Unterhaus auf einer der mit grünem Leder bespannten Bänke ausstreckte.
"Die Verkörperung von Arroganz, Anspruchsdenken, Respektlosigkeit und Geringschätzung für unser Parlament", schrieb die Labour-Abgeordnete Anna Turley in der Nacht auf Mittwoch auf Twitter. Rees-Mogg, der hochgewachsene Abgeordnete aus der konservativen Partei von Premierminister Boris Johnson, ist bekannt für sein elitäres, exzentrisches Auftreten.
Immer wieder kehrende Zwischenrufe von den Bänken quittierte Rees-Mogg mit einem schelmischen Grinsen.