2019: Wie der KURIER die Proteste in Hongkong erlebte
Von Armin Arbeiter
„Agnes Chow verhaftet!“ – die Eilt-Meldung der South China Morning Post blinkt auf meinem Display auf. Das darf doch nicht wahr sein! Es ist noch nicht einmal zehn am Vormittag und die Hongkonger Polizei schnappt uns bereits den zweiten Interviewpartner vor der Nase weg.
Ich drücke die Zigarette aus und gehe wieder in das kleine Café in Mongkok, einem Hongkonger Stadtviertel. An kleinen Tischen sitzen Anzugträger, schlürfen ihren Kaffee.
Jürg Christandl, KURIER-Fotograf, sitzt mit Johnson Yeung, Anwalt, auf einer Eckbank, diskutiert über die Protestbewegung, die Hongkong damals seit drei Monaten in Atem hält.
Kein Drehbuch
Wir konnten Yeung noch in letzter Sekunde erwischen – gleich muss er aufs Polizeirevier, um unseren ursprünglich ersten Interviewpartner, den bekannten Bürgerrechtler Joshua Wong, zu vertreten. Auch ihn hat die Polizei knapp vor unserem Interviewtermin festgenommen.
„So ein Schaß!“, regt sich Jürg auf, als ich ihm die Neuigkeiten erzähle. Über unser Pech schimpfend machen wir uns zum Hauptquartier der Polizei auf, auch wenn wir wissen, dass ein Einsatz nicht nach einem Drehbuch abläuft. Das wird uns noch bewusster, als wir die Hauptstraße – die Nathan-Road – hinuntergehen.
Bis auf einige „Free Hongkong“-Schriftzüge an den Wänden ist nichts von den Protesten zu bemerken. Obsthändler bieten ihre Waren feil, Geschäftsleute eilen zu ihrem nächsten Termin.
„Es leben eben doch sieben Millionen hier – da kann der Protest nicht allgegenwärtig sein“, denke ich mir.
Am nächsten Tag ist alles anders. Zu Hunderttausenden marschieren die Menschen durch die Straßen der Innenstadt. Unaufhaltsam bewegt sich eine Menge durch die Häuserschluchten Hongkongs. Eine solche Menge habe ich nie zuvor gesehen. „Kämpft für die Freiheit! Steht zu Hongkong!“, brüllen mehr als eine Million Menschen. Immer lauter, immer wütender.
Mein ganzer Körper vibriert, als ob direkt neben mir ein gigantischer Bass während eines Metal-Konzerts dröhnen würde. Menschen wie alte Männer, junge Frauen, Anwälte und Wäscherinnen bilden diese Masse. Demonstranten, die sich mit US-Flaggen vermummen und Trump-Plakate halten, Studentinnen mit Dreadlocks, die das Peace-Zeichen auf ihren Gesichtern tragen.
Diese – bis dahin vollkommen friedliche – Macht-Demonstration der Bevölkerung wird mir immer im Gedächtnis eingebrannt sein.
Wenig später schießt die Polizei ihre erste Tränengas-Granate. Vor dem Parlament haben sich einige hundert Demonstranten selbstständig gemacht, Steine und später auch Molotow-Cocktails geworfen. Die Polizei hat vorbildmäßig reagiert, erst zwei Warnflaggen gezeigt, bis die erste Granate kracht.
Nicht ganz dicht
Jürg und ich stehen in vorderster Reihe, haben unsere Schutzmasken auf, bereit das Chaos zu dokumentieren. Meine Maske füllt sich mit Tränengas. Das Atmen fällt schwer. Ich sehe nur noch verschwommen. Ich muss weg. Und sprinte die Straße entlang. Sofort laufen zwei Demonstranten auf mich zu, reißen die Maske von meinem Gesicht, tröpfeln Tränenflüssigkeit in meine Augen. Kurz darauf ist alles wieder normal.
Beim Bundesheer habe ich eine Hauptdichteprüfung für übertrieben gehalten – diesen Fehler mache ich nicht wieder. Wenige Meter neben mir wird Jürg versorgt: „Die werden halt in China hergestellt worden sein“, witzelt er später.
Als wir um zwei in der Früh unseren Arbeitstag für beendet erklären und mit einem Bier in der Hand auf die Bucht von Hongkong schauen, haben wir Agnes Chow doch noch interviewen können. Einige Wochen später wird sie in Wien sein.
So wie ich einige Wochen später wieder in Hongkong. Wo die Proteste nach wie vor andauern.