Politik/Ausland

EU-Kommissionschefin: 140 Milliarden Euro an Übergewinnen werden umverteilt

Wenn Kleider Programm machen, dann war noch vor der Rede der EU-Kommissionspräsidentin klar, worum sich alles drehen würde: In einem gelben Blazer und blauer Bluse - also den Farben der Ukraine - trat Ursula von der Leyen am Mittwochvormittag vor das Plenum des EU-Parlaments in Straßburg. Und so war es denn auch die demonstrative Unterstützung Europas für die Ukraine, die sich wie ein Leitmotiv durch die einstündige, immer wieder von Pathos getragenen, Ansprache der Kommissions-Chefin zog. Die wohl prominenteste Zuhörerin dabei: Olena Zelenska, die Frau des ukrainischen Präsidenten, saß als Ehrengast der alljährlich im September abgehaltenen "Rede zur Lage der Union" ganz vorne mit dabei.

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"Nie zuvor in der Geschichte der Union", hob die Kommissionschefin zu ihrer Einleitung an, "hat eine Rede wie diese vor dem Hintergrund eines Krieges stattgefunden, der vor der Haustüre Europas passiert." Und so ist es dieser Krieg, der Europa in den vergangenen Monaten entscheidend verändert hat und in den kommenden Monaten auch weiterhin prägen und zu Veränderungen zwingen wird. Beginnend mit den Folgen der Energiekrise - ausgelöst durch den russischen Missbrauch der Energiepolitik als Waffe. "Geeint, entschlossen und schnell", habe Europa von Tag 1 des Krieges in der Ukraine reagiert, sagte von der Leyen. Und auch angesichts der der nun zehn mal höheren Strompreise und der Gasknappheit lege Brüssel nun die nötigen Maßnahmen vor:

Übergewinne abschöpfen

Zur Entlastung der Konsumenten sollen demnach laut Kommissionpräsidentin die übermäßige Gewinne von Energiefirmen in der EU abgeschöpft und umverteilt werden. Ein entsprechender Gesetzesvorschlag werde sowohl die Produzenten von erneuerbarem Strom als auch Gas- und Ölkonzerne treffen.

„Unser Vorschlag wird mehr als 140 Milliarden Euro für die Mitgliedstaaten bringen, um die Not unmittelbar abzufedern“, sagte von der Leyen. Die übermäßigen Gewinne sollen dann an Verbraucher verteilt werden, um sie bei den exorbitant hohen Kosten zu entlasten. Der Strompreis wird derzeit vom hohen Gaspreis getrieben und auch Produzenten von billigerem Strom - etwa aus Sonne, Wind, Atomkraft oder Kohle - können diesen zu den hohen Preisen verkaufen. Firmen, die Elektrizität nicht aus Gas herstellen, sollen einen Teil dieser Gewinne abgeben.

Aber auch Gas- und Ölkonzerne sollten von der Leyen zufolge ihren Beitrag leisten. Auf Profite des laufenden Jahres, die 20 Prozent über dem Durchschnitt der vergangenen drei Jahre lagen, sollen sie eine Solidaritätsabgabe von 33 Prozent zahlen.

Eines der größten Probleme derzeit - namlich die Tatsache, dass der Strompreis an den Gaspreis gekoppelt ist, lässt sich hingegen auf die Schnell nicht lösen. Doch Von der Leyen gestand ein: "Die Merit-Order hat ausgedient, sie erfüllt ihren eigentlichen Zweck nicht mehr." Fazit: Eine Reform des europäischen Strommarktes sei nötig.

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Geplant sind zudem Maßnahmen, um den Stromverbrauch der EU-Länder insgesamt zu senken. So soll der Stromverbrauch zu Spitzenzeiten verpflichtend um mindestens fünf Prozent gesenkt werden.

"Sanktionen von Dauer"

Wenig Hoffnung machte die Kommissionschefin hingegen jenen Rufern, die ein rasches Ende der Sanktionen gegen Russland fordern. „Ich möchte keinen Zweifel daran lassen, dass die Sanktionen von Dauer sein werden“, sagte die frühere deutsche Verteidigungsminsterin. Moskau trage die Verantwortung dafür, dass die russische Wirtschaft den Anschluss verliere.

„Putin wird scheitern, die Ukraine und Europa werden sich durchsetzen“, sagte sie im Brustton der Überzeugung. Die Strafmaßnahmen der EU gegen Russland seien die schärfsten Sanktionen, die die Welt je gesehen habe. Und immer wieder, beim Thema Russland, kippte die mächtigste Frau Brüssels in Dramatische: „Dies ist der Preis für Putins Spur des Todes und der Vernichtung.“

Russland führe nicht nur Krieg gegen die Ukraine, das sei auch ein "Krieg gegen unsere Energieversorgung, ein Krieg gegen unsere Wirtschaft, ein Krieg gegen unsere Werte und ein Krieg gegen unsere Zukunft“.

Begehrte Rohstoffe

Die Lehren aus diesen Ereignissen sei auch, die Ursula von der Leyen weiter: Europa dürfe nicht von einer Abhängigkeit in die nächste stürzen. Deshlab plant die EU einen "Rohstoff-Akt". Der zielt darauf ab, sich von der Abhängigkeit von China zu befreien, wo 90 Prozent aller so genannten seltenen Erden vorkommen. Neue Partnerschaften etwa mit Chile, Mexiko und Neuseeland seien geplant. In den Startlöchern stehen auch massive Förderungsprogramme, um die Wasserstoffproduktion in Europa voranzutreiben.

Schuldenregeln

Ein weiteres, heißes Thema steht der EU im Herbst bevor: Dann kommen Vorschläge zu einer Reform der viel kritisierten Schuldenregeln in der Europäischen Union: „Wir müssen die neue Realität mit höheren Schulden anerkennen“, sagte von der Leyen. Während der Corona-Pandemie haben sich die Schuldenstände deutlich erhöht, ein Einhalten der Vorgaben scheint für viele Staaten völlig unrealistisch.

Der sogenannte Stabilitätspakt, der den Wert des Euro sichern soll, begrenzt die Neuverschuldung von EU-Staaten eigentlich auf drei Prozent und die Gesamtverschuldung auf 60 Prozent der jeweiligen Wirtschaftsleistung. Eine Reform müsse deshalb her, fordern vor allem die Länder mit hohen Schuldenständen - während Länder wie Österreich und Deutschland darauf beharren: Die bestehenden Regeln müssten eingehalten werden. Doch die große Diskussion darüber wird im Oktober beginnen.

Solidarität

Und dann überraschte die Kommissionspräsidentin doch noch mit einer überraschenden Ansage: Die von ihr in ihrer Rede immer wieder beschworene Solidarität in Europa solle in den Europäischen Verträgen verankert werden. Es brauche, sagte sie, erneut einen Europäischen Konvent. Der Applaus im Europäischen Parlament, das ja immer wieder eine Reform der europäischen Verfasstheit einfordert, war ihr damit sicher.

Der Tag ihrer Rede endete für Ursula von der Leyen  mit einer Reise - nach Kiew. Dort will die EU-Kommissionschefin bereits zum dritten Mal seit Beginn des Krieges zusammentreffen. Und ihm wohl auch den Vorschlag überbringen, dass die Ukraine möglichst schnell auch dem EU-Binnenmarkt näher kommen soll.