Politik/Ausland

Nach dem Erdbeben: "Es kommt zu wenig Hilfe nach Syrien"

Fast sieben Wochen ist das verheerende Erdbeben in der Osttürkei und Nordwestsyrien mittlerweile her, die Not der Bevölkerung nach wie vor groß – besonders in den betroffenen Regionen in Syrien, wo seit 12 Jahren Krieg herrscht.

Hilfe wird dort erschwert durch die verschiedenen politischen Kräfte vor Ort: Größere und kleinere Teile Syriens werden regiert von Kurden, dem syrischen Regime von Machthaber Baschar al-Assad, Rebellengruppen und der extremistischen Miliz Hayat Tahrir al-Sham, kurz HTS. Auch die Sanktionen des Westens erschweren die Arbeit von NGOs. Dazu kommen Vorwürfe, politische Kräfte würden die Hilfe für eigene Interessen missbrauchen.

Der KURIER hat mit dem Notfallhilfekoordinator Julian Erjautz vom SOS Kinderdorf Nothilfe Team in Syrien, der sich gerade in Damaskus befindet gesprochen. SOS Kinderdorf ist seit über 40 Jahren in Syrien vertreten, aktuell vor allem in und um Aleppo. 

KURIER: Herr Erjautz, wir erreichen Sie in Damaskus. Was sind gerade Ihre Aufgaben gerade vor Ort?

Julian Erjautz: Wir koordinieren von hier aus unsere Hilfe, überarbeiten die Projektanträge, passen die Budgets an die aktuelle Lage an, evaluieren unsere Arbeit. SOS Kinderdorf ist in Aleppo, Latakia und Damaskus tätig. In Aleppo hatten wir bereits vor einigen Jahren ein großes Notfallprojekt, hatten dort noch ein Büro und haben das jetzt wieder hochgefahren.

Wie geht es der Bevölkerung in Aleppo, rund sieben Wochen nach dem Erdbeben?

Die Menschen sind nach wie vor in temporären Notunterkünften untergebracht, etwa in Schulen. Die Zustände dort sind nicht ideal, vor allem die hygienischen Bedingungen sind schlecht. Es liegt viel Schutt auf den Straßen, viele Gebäude sind eingestürzt. Gerade versuchen die Menschen, zurück in andere Häuser zu ziehen, damit die Schulen wieder geöffnet und die Kinder ihrer Bildung nachgehen können. Es herrscht also gerade viel Bewegung vor Ort.

Wie viele Menschen betreuen Sie?

In den ersten Wochen haben wir vor allem Neugeborene versorgt, Pakete mit Milch und Windeln verteilt. Damit haben wir einige Hunderte Menschen erreicht. Wir haben jedoch unsere Projekte und finanziellen Unterstützungen halbieren müssen. Was gebraucht wird, sind Hygieneartikel, Lebensmittel, psychologische Betreuung, finanzielle Hilfen, um Häuser aufbauen und Sachen reparieren zu können wie ein einfaches Fenster.

Kommt zu wenig finanzielle Hilfe nach Syrien?

Ja. Es ist eine komplexe Situation, das war es schon vor dem Erdbeben. Der Konflikt hat viel zerstört, Häuser sind kaputt. Dazu die ökonomische Krise, 97 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze, im vergangenen Jahr gab es einen Cholera-Ausbruch. Und jetzt das Erdbeben obendrauf.

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Haben Sie auch Kontakt zur Bevölkerung in den Regionen, die nicht vom syrischen Regime von Baschar al-Assad kontrolliert werden? Idlib zum Beispiel?

Wir als SOS sind registriert im von der Regierung gehaltenen Gebiet und können auch nur hier arbeiten. Hier herrscht nach wie vor große Not. Wir sind schon lange hier und haben hier mehr Möglichkeiten zu helfen, sind gut verankert und vernetzt und konnten dadurch auch schnell helfen. Nur Organisationen mit einem Mandat, wie die Vereinten Nationen oder das Internationalen Komitee des Roten Kreuzes, können in verschiedenen Regionen arbeiten. Alle anderen Hilfsorganisationen müssen sich entscheiden.

Was sagen Sie zu Vorwürfen, dass humanitäre Hilfe von politischen Kräften vor Ort missbraucht wird?

Wo auch immer humanitäre Hilfe geleistet wird: Man das Okay von der Regierung. Jede Organisation muss im gesetzlichen Rahmen arbeiten und die Zusage, wo sie arbeiten und was sie hineinbringen darf, von der Regierung einholen. Bisher haben wir keine großen Hindernisse in den Weg gelegt bekommen. Aber wir arbeiten auch nur in unserem erlaubten Gebiet und expandieren nicht in andere Regionen.

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Ist es nicht auch ein moralisches Dilemma für eine Hilfsorganisation, wenn sie mit dem Regime von Baschar al-Assad zusammenarbeiten muss, dem Kriegsverbrechen an der eigenen Bevölkerung vorgeworfen werden? Wie gehen Sie persönlich damit um?

Ich stehe auf der Seite der Menschen. Und ich versuche, Menschen zu unterstützen, die in Not sind. Manche können sich ihre Regierung und ihre Autoritäten, unter denen sie leben, nicht aussuchen. Aber auch diese Menschen haben Unterstützung verdient. Das kann ich für mich rechtfertigen, und auch für die Organisation.

Kurz nach dem Erdbeben gab es Luftangriffe auf den Flughafen in Aleppo. Wie schwierig ist humanitäre Hilfe in Syrien im Vergleich zu anderen Regionen der Welt?

Ich habe im Irak gearbeitet, auf Lesbos, in der Ukraine. Jede Krise hat ihre eigenen Herausforderungen. Im Regierungsgebiet ist der Sicherheitslage im Vergleich zu vor wenigen Jahren einigermaßen okay. In anderen Regionen Syriens ist es sicherlich etwas brenzliger. In einer gewissen Weise gewöhnt man sich aber daran. Manchmal verbringt man eben einen Abend im Keller, das ist okay.

Inwiefern behindern westliche Sanktionen gegen Syrien Ihre Arbeit? Man hört immer wieder, dass Banken von sich aus Finanzaktionen nach Syrien aus Sicherheitsbedenken kaum durchlassen.

Die Sanktionen haben einen großen Einfluss auf die Bevölkerung und unsere Arbeit. Transaktionen brauchen oft länger als sonst. Politisch möchte ich mich zu den Sanktionen nicht äußern. Aber sie machen das Arbeiten schwieriger, auch weil viele internationale Güter nicht vorhanden sind. Es gibt keine Kreditkarten, keine starke Währung und man hat nur beschränkte Möglichkeiten.

Welche konkreten Projekte hat SOS Kinderdorf in nächster Zeit in Syrien vor?

Wir werden uns nicht nur auf die kurzfristige Notfallhilfe fokussieren, sondern auch versuchen, Familien mit Einkommen generierenden Aktivitäten zu stabilisieren, damit sie in zwei, drei Jahren ein eigenes Einkommen haben können, damit Kinder in einem besseren Familienumfeld leben, nicht von ihren Eltern getrennt werden müssen und wieder in die Schule gehen können.

Syrien ist seit Jahren eine Krise. Durch das Erdbeben hat es das Land wieder kurz in die Schlagzeilen der internationalen Medien geschafft. Es gibt viele Orte, wo mehr Unterstützung gebraucht wird. Es gibt noch viel zu tun, aber zusammen schaffen wir das.