Politik/Ausland

Bootstragödie: Immer mehr Zweifel an der Version der Griechen

„Sie sagten, sie wollten keine Hilfe, sondern nach Italien, und sie sind weitergefahren“, beharrte Griechenlands Regierungssprecher Ilias Siakantaris. Er versuchte zu erklären, warum die Küstenwache das Unglücksboot mit mehr als 750 Flüchtlingen vergangene Woche nicht gerettet hatte. Das Boot sank, mehr als 500 Menschen – darunter zahlreiche Kinder und Frauen – ertranken wohl vor der griechischen Küste.

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Die Widersprüche zum Tathergang häufen sich. Mehrere der etwa 100 Überlebenden berichten, dass die griechische Küstenwache das Boot mehrmals mit einem Seil in Richtung italienische Gewässer ziehen wollte. Stimmt das, könnten das Push-Back-Versuche gewesen sein, um Italien die Zuständigkeit für das Boot und die Menschen darin zuzuschieben. Laut Geretteten ist das Boot aufgrund des Ziehens ins Wanken geraten und gesunken. Angesichts der viel zu vielen Personen an Bord ist durchaus denkbar, dass Ziehversuche das Boot zum Untergehen gebracht haben könnten.

Seil wirft Fragen auf

Die griechischen Behörden weisen Vorwürfe, sie seien für das Unglück verantwortlich, zurück. Und doch sprach auch Siakantaris kürzlich von einem Seil, das die Küstenwache eingesetzt habe – aber erst, nachdem Bilder publik geworden waren, auf denen das Seil zu sehen war. Wenige Stunden vor dem Untergang des Bootes habe die Küstenwache es benutzt, um das Boot zu „stabilisieren, sich zu nähern, um zu sehen, ob sie Hilfe brauchen“, so der Regierungssprecher. Gesunken sei das Schiff deswegen nicht.

Noch etwas spricht gegen die Aussage von Siakantaris, das Boot sei auf dem Weg nach Italien gewesen und habe keine Hilfe zugelassen: Schiffsbewegungsdaten, die der BBC vorliegen und die darauf hinweisen, dass sich das Unglücksboot sieben Stunden vor dem Unglück praktisch nicht von der Stelle bewegt habe.

Zwar hatte das Schiff keinen Peilsender und war daher auf keiner Karte verzeichnet. Aber das Flüchtlingsboot hatte Kontakte mit anderen Schiffen, und diese konzentrierten sich laut einer maritimen Analyseplattform alle auf das kleine Gebiet, in dem das Migrantenboot später sank.

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Diese Daten haben nun große Zweifel an den offiziellen griechischen Behauptungen aufgeworfen, das Flüchtlingsboot habe keine Probleme mit der Navigation gehabt.

Die Regierung in Athen gerät so immer mehr in Bedrängnis – und das zu einem ungünstigen Zeitpunkt: Diesen Sonntag wählen die Griechen ein neues Parlament. Die Opposition nutzt die Geschehnisse für Regierungskritik. Das Unglück dürfte aber ohnehin nicht an der Bevölkerung vorbeigegangen sein: Drei Tage lang galt Staatstrauer, es gab mehrere Kundgebungen mit Tausenden Teilnehmern.

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Eine Katastrophe mehr

Die Situation erinnert an das verheerende Zugunglück Ende Februar, bei dem fast 60 Menschen in Tembi, Thessalien, starben. Damals kam die Regierung enorm unter Druck, verschob die Wahlen von April auf Mai. Die Konservativen von Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis gewannen. Zum Alleinregieren war das zu wenig, deshalb kommt es zu Neuwahlen.