Assad und Erdogan: Aug’ in Aug’ – und den Finger am Abzug
Seit Sonntagnacht spitzt sich die Lage in Syrien zusehends zu: Nach dem Einmarsch türkischer Truppen wurden syrische Soldaten und ihre Verbündeten in Richtung Grenze geschickt. Am Montag folgte aus Washington der Abzugsbefehl an alle US-Soldaten in der Region. In der Nähe der Stadt Manbidsch kam es laut Aktivsten zu ersten Gefechten zwischen der syrischen Armee und der mit der Türkei verbündeten Rebellengruppe „Syrische Nationale Armee“ (SNA). Das wirft noch mehr Fragen im ohnehin verworrenen Krieg auf.
Wer ist die SNA und warum kämpft sie auf der Seite der Türkei?
18.000 Krieger dieser von der Türkei gegründeten Rebellengruppe sollen an der Offensive beteiligt sein. Die „Syrische Nationale Armee“ (SNA) setzt sich aus verschiedenen Milizen zusammen. Da gibt es Überbleibsel der „Freien Syrischen Armee“, die sich zu Beginn des Bürgerkriegs gebildet hatte und anfangs als gemäßigt galt, jedoch auch radikale Gruppierungen wie die „Ahrar al-Sham“. Die SNA soll laut türkischen Vorstellungen in absehbarer Zeit den Norden Syriens beherrschen.
Angenommen, die Situation zwischen den syrischen Truppen und der Türkei eskaliert – tritt dann der NATO-Bündnisfall ein?
„Selbstverständlich nicht“, sagt der Politologe Thomas Schmidinger zum KURIER. „Der NATO-Bündnisfall laut Artikel 5 tritt erst dann ein, wenn ein Mitgliedsstaat angegriffen wird. Nicht bei einem Angriffskrieg.“
Dass sowohl die syrische Armee, aber vor allem Russland türkisches Territorium angreift, gilt als äußerst unwahrscheinlich. Ein solcher Schritt hätte Konsequenzen von ungeahntem Ausmaß, denn dann käme der Artikel 5 tatsächlich zum Einsatz.
Was bedeutet die Stationierung von Assads Truppen an der türkischen Grenze für die Türkei?
Das türkische Militär muss es sich schon zweimal überlegen, Städte anzugreifen, in denen Assad-Truppen stationiert sind. Eine direkte Konfrontation mit assadtreuen Kräften würde die Offensive sofort in eine ganz andere Dimension im verworrenen syrischen Bürgerkrieg katapultieren.
Russland machte bereits klar, was ein türkischer Angriff auf syrische Truppen bedeuten könnte: „Wir hoffen, dass die türkischen Streitkräfte und ihre Verbündeten nicht leichtsinnig einen Krieg mit der syrischen Regierung vom Zaun brechen wollen.“
Die Türkei, die auf diplomatischer Ebene bisher ein gutes Verhältnis zu Russland und dem Iran hatte – auch wenn sie im Konflikt auf unterschiedlichen Seiten stehen – stünde noch isolierter da als jetzt. Und was ein unterkühltes Verhältnis mit Russland bedeutet, weiß Erdoğan noch aus dem Jahr 2016.
2015 hatte die türkische Luftabwehr einen russischen Kampfjet abgeschossen, Russlands Präsident Wladimir Putin strafte das Land daraufhin mit Sanktionen, verbot seinen Bürgern, in der Türkei Urlaub zu machen. Der Tourismus brach ein und damit ein großer Teil der türkischen Wirtschaft.
Allerdings gab sich Erdoğan auch noch am Montag kampfeslustig: Er werde die Offensive weiterführen, „völlig egal, was die verurteilenden Länder dazu sagen“.
Was bedeutet die Stationierung von Assads Truppen an der türkischen Grenze für die Kurden?
Auf den ersten Blick bedeutet sie Schutz vor türkischen Angriffen – allerdings ist es bereits zu Gefechten mit der SNA gekommen. Grundsätzlich sollten die Assad-Truppen der SNA gewachsen sein. Noch ist allerdings unklar, was das Assad-Regime im Gegenzug verlangt hat, es könnte sich etwa um den Zugang zu den Ölfeldern im Nordosten oder bei Deir ez Zor im Süden handeln.
Die Zusammenarbeit mit der Assad-Regierung und Russland habe notgedrungen stattgefunden, schrieb der Kommandant der „Syrischen Demokratischen Kräfte“ (SDF), Maslum Abdi. Die SDF werden von den Kurden dominiert. „Wir trauen ihren Versprechen nicht. Ehrlich gesagt, ist schwer zu wissen, wem man vertrauen kann.“
Die Regierungen in Damaskus und Moskau hätten aber Vorschläge gemacht, die Millionen Menschenleben retten könnten. Abdi: „Wenn wir zwischen Kompromissen und dem Genozid an unserem Volk wählen müssen, werden wir uns mit Sicherheit für das Leben unserer Bevölkerung entscheiden.“
Auch wenn sie grundsätzlich auf verschiedenen Seiten stehen, hatten beide Fraktionen des Öfteren Nichtangriffspakte.
Was unternimmt die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS)?
Zwar hat der IS in Syrien kein „Staatsgebiet“ mehr, ist aber nach wie vor aktiv. In der vergangenen Woche hatten IS-Terroristen verschiedenste Anschläge in der Region verübt, die SDF haben nicht mehr ausreichend Wachpersonal für gefangene IS-Kämpfer zur Verfügung. Laut Berichten kurdischer Aktivisten ist es bereits zu Gefechten mit IS-Kämpfern bei Gefangenenlagern gekommen.
Und wie reagiert die EU auf die Invasion der Türkei in Syrien?
Eine schlagkräftige Antwort, die Ankara zum Einhalten bringen könnte, bleibt die EU weiter schuldig. Beim Treffen der EU-Außenminister in Luxemburg einigte man sich nicht einmal auf ein EU-weites Waffenembargo gegen die Türkei. Ungarn stimmte dagegen. Stattdessen wollen einzelne Staaten wie Deutschland und Frankreich keine Waffen mehr an die Türkei liefern, die in Syrien eingesetzt werden könnten.
Einig war man sich nur bei der Aufforderung an die Türkei, die „einseitige militärische Aktion in Nordostsyrien“ zu beenden.
Wie viele Menschen sind in Nordsyrien auf der Flucht?
Nach UN-Angaben sind bereits rund 130.000 Menschen wegen der Offensive geflüchtet. Gehen die Kämpfe um die Grenzorte weiter – und davon ist auszugehen – könnten es in den kommenden Tagen weitaus mehr sein.
450.000 Menschen in Nordsyrien leben an der Grenze zur Türkei, seit Beginn der türkischen Offensive vorigen Mittwoch starben bereits Dutzende. Zehntausende Zivilisten sind auf der Flucht, mehr als 1,6 Millionen weitere sind auf humanitäre Hilfe angewiesen.Hilfsorganisationen bitten um Spenden, u. a.
Caritas: IBAN: AT92 6000 0000 0770 0004
Care: IBAN: AT77 6000 0000 0123 6000
Ärzte ohne Grenzen: IBAN: AT43 2011 1289 2684 7600
Diakonie: IBAN: AT85 2011 1287 1196 6333