Politik/Ausland

Angehörige der Hamas-Geisel: "Sie schrieb ein letztes Mal in den Familienchat"

Nach zwei Wochen voller Angst geschah doch noch das Wunder. Irgendwo am östlichen Rand des Gazastreifens stiegen Judith Raanan und ihre 17-jährige Tochter Natalie in einen braunen Geländewagen und fuhren zurück in die Freiheit. Die beiden israelisch-US-amerikanischen Doppelstaatsbürgerinnen waren am 21. Oktober die ersten beiden Geiseln, die von der Hamas freigelassen worden waren.

Für ihre Familie ist der Albtraum dennoch nicht vorbei, wie Tal Yeshurun am Donnerstag in Wien erzählt. Der Israeli ist ein Cousin von Judith und Natalie Raanan und einer von drei Angehörigen verschleppter Hamas-Geiseln, der am Abend bei einer Solidaritätskundgebung am Heldenplatz auftreten sollte.

Hier lesen Sie unseren Bericht vom Lichtermeer am Wiener Heldenplatz

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Am Morgen des 7. Oktober verlor Tal Yeshuruns Familie den Kontakt zu zwölf Verwandten sowie einem Freund der Familie. "Wir haben wirklich überall nach Lebenszeichen gesucht, haben sogar die Telegram-Kanäle der Hamas verfolgt", erklärt er. Angesichts der schrecklichen Bilder sei ihm klar gewesen, "dass uns das ernsthaft traumatisieren wird", aber: "Wir mussten wissen, ob sie noch leben." Doch ein bekanntes Gesicht sahen sie nicht.

Hamas veröffentlicht Videobeweise

Hunderten, die den Kontakt zu ihren Angehörigen am 7. Oktober verloren haben, geht es genauso. Die wenigsten der Hinterbliebenen wissen sicher, dass ihre Familienmitglieder entführt wurden. Sie gehen lediglich davon aus, weil sie am Tag des Großangriffs den Kontakt zu ihren Liebsten verloren – und deren Tod bisher nicht bestätigt bekamen.

Jene, die Lebenszeichen erhielten, bekamen sie direkt von der Hamas. Das Video der 21-jährigen Mia Schem, der ersten gezeigten Geisel, ging um die Welt. Darin beteuert sie, gut behandelt zu werden.

Der 23-jährige Evyatar David ist auf einem Video dagegen in Handschellen auf dem Boden liegend zu sehen – ein Hamas-Terrorist schickte es seiner Schwester, die auf Instagram um Hinweise zum Verbleib ihres Bruders gebeten hatte.

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Auch Sascha Ariev durchsuchte am Morgen des 7. Oktober fieberhaft die grausamen Videos der Terroristen nach einem Lebenszeichen ihrer kleinen Schwester Karina. Die 19-Jährige hatte als Soldatin in der Nähe der Grenze zum Gazastreifen gedient, als die Hamas angriff. 

"Um 6:30 Uhr hat sie mich aus dem Schutzbunker heraus angerufen", sagt Sascha zum KURIER. Ihre Schwester sei "im Pyjama" aus dem Bett geholt und zunächst in Sicherheit gebracht worden. "Um 7:40 Uhr schrieb sie dann ein letztes Mal in unseren Familien-Chat: ‘Die Terroristen sind hier’."

Dann, in einem Video auf einem Telegram-Channel der Hamas, entdeckte Sascha ihre Schwester. Karina sitzt darin verletzt auf der Ladefläche eines Lkw, ihr Gesicht ist blutverschmiert. "Ich weiß nicht, ob das durch einen Schuss oder eine Granate passiert ist, ob sie geschlagen wurde", sagt Sascha. Doch es ist das letzte Lebenszeichen, das ihr bleibt: "Seither sitzen wir in völliger Finsternis."

140 Leichen sind so schlimm entstellt, dass ihre Identität noch nicht geklärt wurde

Auch Tal Yeshuruns Familie ist darin gefangen, trotz der Freilassung von Judith und Natalie Raanan. Der Tod von drei Angehörigen wurde in den Tagen nach dem Hamas-Überfall anhand von DNA-Spuren bestätigt. Von sieben weiteren, darunter der österreichische Staatsbürger Tal Shoham, fehlt dagegen jede Spur.

"Wir haben eigentlich keine Beweise dafür, dass meine Verwandten noch leben", sagt Tal Yeshurun heute. Schließlich gebe es noch 140 Leichen, die so schlimm entstellt wurden, dass ihre Identität bis heute nicht geklärt werden konnte.