Eine "Welt"-Schlagzeile sorgt für Empörung am Balkan
Von Mirad Odobašić
Catchy. So muss ein Titel sein. Also einprägsam, ein Blickfang. Das lernt man gleich zu Beginn des Publizistik-Studiums. Die Wichtigkeit des Titels in der medialen Berichterstattung bekommt der Journalist tagtäglich vom Vorgesetzten und Kollegen eingetrichtert. Denn vom Titel hängt vieles ab, in erster Linie, ob der Leser in die Geschichte "hereinkippt" bzw. ob der Titel ihn dazu verführt, auch den darunter stehenden Text zu lesen.
Die Kunst des Titelmachens besteht allerdings auch darin, ihn so zu gestalten, dass er zwar provoziert, aber nicht so sehr, dass er von Lesern als abstoßend oder gar verletzend empfunden wird. Der Titel einer in der deutschen Welt erschienenen Reportage dürfte gemessen an den Reaktionen in den sozialen Netzwerken genau das getan haben.
"Jugoslawien war Kinderkram im Vergleich zur Ukraine" lautet der Name der Reportage des Ukraine-Korrespondenten. "Unserem Reporter Alfred Hackensberger erzählen die freiwilligen Kämpfer, warum sie ihr Leben für die Ukraine riskieren - und was sie schon jetzt aufgeben mussten", ist in dem verheißungsvollen Vorspann zu lesen. Der Reporter traf also "nahe der Front" fünf Männer, die die Invasion Russlands auf dem ukrainischen Boden so sehr bewegte, dass sie sich entschlossen, ihr bisheriges Leben aufzugeben, um an die Ukraine-Front zu ziehen.
Darunter ist auch ein Spanier namens Pablo. Der 56-Jährige sei sechs Jahre bei der Spanischen Legion und in dieser Zeit auch beim Nato-Einsatz in Jugoslawien dabei gewesen, verriet er der Welt. In seiner Beichte liefert Pablo einen Satz, den man bei der Welt so "griffig" fand, dass er zum Artikeltitel avancierte. "Jugoslawien war Kinderkram im Vergleich zur Ukraine. Stundenlang kann man im Schützengraben liegen, und links und rechts macht es nur bumm, bumm, bumm".
Groll in sozialen Netzwerken
Auch wenn die Welt Pablos Sager richtigerweise unter Anführungszeichen setzte und damit als eine Fremdaussage kennzeichnete, machte sich in den sozialen Netzwerken schnell Groll breit. Vor allem bei denjenigen, die Jugoslawien-Kriege erlebt haben.
"Als Überlebender dieses Krieges spüre ich gerade eine Mischung aus Wut und Trauer bei dem Lesen dieser Headline. Respektlos und widerlich? Es ist noch mehr als das! Schämt Euch @welt", schrieb ein User. "Wie widerlich und respektlos kann man eine Headline gestalten? @welt: JA!", lautet die Reaktion eines anderen erbosten Twitter-Nutzers.
"Soll der Journalismus überhaupt Kriege vergleichen?"
Fragwürdig ist die Titelwahl auch für Nedad Memić. Der seit 2002 in Wien lebende Germanist und PR-Berater hat als Teenager die Belagerung von Sarajevo überlebt. "Man muss sich auch eine ethische Frage stellen: Soll der Journalismus überhaupt Kriege vergleichen oder soll ein Journalist unreflektiert solche vergleichenden Aussagen für die Headline wählen?", sagt der gebürtige Bosnier im Gespräch mit dem KURIER.
Aus seiner Sicht sei eine unerfreuliche Entwicklung erkennbar. "Seit Beginn des Ukraine-Krieges lässt sich in einigen journalistischen Kreisen im deutschsprachigen Raum die Tendenz erkennen, diesen Konflikt als ersten großen europäischen Krieg nach 1945 darzustellen. Da werden zahlreiche Konflikte in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg ignoriert, besonders der Jugoslawien- und Bosnienkrieg", erinnert Memić. Vor allem der Bosnienkrieg habe gewaltige Ausmaße angenommen, sagt er. "Dies alles schlichtweg zu ignorieren, ist ein Affront gegenüber zahlreichen Opfern der Jugoslawienkriege, die in großer Zahl auch in Deutschland wohnen."
"Keine wahren Europäer"
Memić fordert einen sensibleren Umgang mit Menschen, die Kriege überlebt haben. "Spätestens seit dem Ukraine-Krieg muss auch die westeuropäische Öffentlichkeit mehr Bewusstsein für die Auseinandersetzung mit den Kriegsfolgen entwickeln. Wenn der Jugoslawienkrieg vielleicht nicht so große wirtschaftliche Folgen für den Rest Europas hatte, hat er Millionen von Menschen dauerhaft traumatisiert und ihre Leben für immer gewaltig verändert", erklärt der Germanist und zieht eine Parallele.
"Die Menschen vom Balkan wissen, dass sie von Westeuropa oft nicht als 'wahre Europäer' betrachtet werden, obwohl viele von ihnen in diesen Kriegen in den 1990er Jahren für genau diese europäischen Werte wie die Ukrainer jetzt gekämpft haben. Aber es gibt mittlerweile eine Generation an balkanstämmigen Menschen, die sie immer wieder daran erinnern wird. Selbst wenn es auch direkt und provokativ sein muss", sagt Memić.