Serbien: Wie eine Ferrari-Flagge zum Symbol des Widerstands wurde
Von Mirad Odobašić
Es war ein kalter Dezembertag im Jahr 1996. Seit bereits drei Wochen gingen die Bürgerinnen und Bürger Belgrads tagtäglich auf die Straße. Sie wollten damit ihren Unmut über die Ergebnisse der Kommunalwahlen vom November kundtun. Ihrer Meinung nach habe man sie dabei bestohlen. Wieder mal.
In der Menge, die den Reden der Oppositionsführer lauscht, sticht unter den zahlreichen Partei- und Staatsfahnen eine rote Flagge heraus. Nicht aufgrund ihrer Farbe - beinahe alle haben Rot in sich - sondern aufgrund des Motivs. Es handelt sich um das springende schwarze Pferd auf dem gelben Hintergrund. Darüber prangt der Schriftzug, der das Blut aller Autoliebhaber in Wallung bringt: "Ferrari".
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Starker Wiedererkennungswert
"In der Masse war auch die berühmte jamaikanische Flagge und sogar ein riesiger Chupa-Chups-Luftballon zu sehen. Unsere Flagge war jedoch die einzige, die jeden Tag da war", sagt der 53-jährige Igor, der Besitzer der Flagge, im Gespräch mit BBC Serbia.
"Auch als es regnete und schneite, stürmte, sogar hagelte - sie war da. So wurde sie zu einem Symbol. Jedes Mal, wenn wir sie auf die Straße brachten, war es wegen Ungerechtigkeit", erklärt Igor, dem die Flagge zwar gehört, aber von 15 verschiedenen Mitgliedern seiner Clique benutzt wurde. "Die Leute wissen zwar nicht, wer wir sind, die Flagge hingegen hat aber einen starken Wiedererkennungswert. Die Symbolik dahinter ist wichtig, nicht wir selbst", betont der Belgrader, der ein großer Formel-1- und Ferrari-Fan ist.
"Wir kamen auf die Idee, meine Ferrari-Flagge mitzubringen, damit wir uns in der Menschenmenge leichter finden. Abgesehen davon sehe ich Ferrari auch als Symbol für Kraft, Beharrlichkeit und Ausdauer".
Ferrari-Flagge als "Symbol der Freiheit"
Andere interpretierten es anders. "Diese Flagge war ein Symbol des Protests, ein Symbol der Freiheit und Verwestlichung ... Jemand brachte sie jeden Tag, ich erinnere mich noch gut daran", sagt gegenüber BBC Serbia die damalige Oppositionspolitikerin Vesna Pešić. Ihre Partei Građanski savez Srbije (Das Zivilbündnis Serbiens) hatte gemeinsam mit zwei weiteren Oppositionsparteien in Belgrad und drei weiteren Großstädten wie Novi Sad, Kragujevac und Niš die Wahlen gewonnen.
Es war die erste große Niederlage von Slobodan Milošević nach Jahren unangefochtener Herrschaft. Das Staatsoberhaupt weigerte sich jedoch, die Ergebnisse der Kommunalwahlen anzuerkennen. Die Bürgerproteste dauerten 88 Tage - bis Milošević seine Niederlage endlich einräumte.
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"Trotzreaktion auf die Propaganda des Regimes"
Vuk Drašković, damals einer der Anführer der Oppositionskoalition Zajedno (Gemeinsam), erklärte BBC Serbia gegenüber, die Ferrari-Flagge sei "eine Trotzreaktion auf die Propaganda des Regimes, die uns als Verräter und Söldner darstellte" gewesen. "Wir marschierten unter dem Motto 'Belgrad ist die Welt' und die Demonstranten verstanden damals die Botschaft - Ferrari hat uns ausgewählt, weil wir die Welt und die Zukunft Serbiens sind", sagt Drašković.
In Italien nahm man damals sehr wohl Notiz davon, dass die Flagge der glorreichen Scuderia in Belgrad eine Rolle spielte. "Das erregte schnell Aufmerksamkeit in Italien, ich erinnere mich noch gut daran", sagt der montenegrinische Politiker Miodrag Lekić, der 1996 und 1997 Botschafter der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien in Rom war, gegenüber BBC. "Sie konnten es kaum fassen, als sie die Ferrari-Flagge dort sahen, wo gerade eine Schnittstelle von Politik und Geschichte entstand - im Chaos Serbiens".
Die rote Flagge mit dem berühmten Cavallino Rampante war auch am 5. Oktober 2000, dem historischen Tag, an dem Milošević gestürzt wurde, in der Menschenmasse zu sehen. Das war auch fast zwei Jahrzehnte später bei den "Einer von fünf Millionen"-Kundgebungen der Fall. Von 2018 bis 2020 holte die Opposition jeden Sonnabend Menschen auf die Straße. Sie protestierten für demokratische Grundrechte - und gegen die "Diktatur eines Mannes" - Aleksandar Vučić.
Große Aufmerksamkeit erregt die Ferrari-Fahne auch nun bei den Protesten "Serbien gegen Gewalt". Diese finden nach zwei Amokläufen, die innerhalb von nur drei Tagen stattfanden und Serbien in Schockstarre versetzten, am kommenden Samstag zum fünften Mal statt. Ein Ende ist nicht in Sicht.
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