"Der König der Löwen": Harem oder Matriarchat?
Lange, bevor der kleine Löwe Simba, der spätere König der Löwen, die Leinwände und Kinderzimmer eroberte, war ein anderer bereits Kult: Clarence, der schielende Löwe aus der Fernsehserie Daktari. Wegen eines Sehfehlers konnte er nicht jagen – dafür war ihm sein Platz im Herzen der Fernsehzuschauer der 1960er-Jahre aber garantiert.
Dass der sympathische Clarence sich nicht vorrangig ums Futter kümmert, ist auch schon die einzige Parallele zu Löwen in freier Wildbahn. Hier sind es nämlich tatsächlich in erster Linie die Löwinnen, die sich um die Verpflegung kümmern.
US-Zoologen wollen daraus nun ableiten, dass es sich bei Löwenrudeln um ein „Matriarchat“ handle.
„Obwohl männliche Löwen größer sind und aggressiver wirken, sind die Weibchen dominanter“, wird Craig Saffoe vom Smithsonian National Zoo in Washington in der New York Times zitiert. Er behauptet, es seien in Wahrheit die Weibchen, die Löwenrudel führen.
Noch weiter geht das Magazin National Geographic, wo Craig Packer, einer der führenden Löwenforscher weltweit und Direktor des Löwenforschungszentrums der University of Minnesota, Löwinnen als „Herz und Seele des Rudels“ bezeichnet. Korrekterweise müsste der Film „König der Löwen“, dessen Neuverfilmung derzeit im Kino zu sehen ist, umbenannt werden und „Königin der Löwen“ heißen.
Der neue Freund
Verhaltensforscher Kurt Kotrschal teilt die Einschätzungen der US-Kollegen nur bedingt. Zwar handle es sich bei Löwenrudeln um „Weibchen-getriebene Gesellschaften“ – Aufzucht der Jungen und Jagd seien zum Großteil in der Hand der Löwinnen. Deshalb aber von einem Matriarchat zu sprechen, hält er für nicht nachvollziehbar. Im Gegenteil: „Löwen haben ein Harem-System mit mehreren Weibchen und zwei Männchen. In regelmäßigen Abständen werden diese Harems von neuen Männchen übernommen. Damit die Weibchen so schnell wie möglich wieder Nachwuchs bekommen, werden die Jungen der Vorgänger getötet. Deshalb kämpfen die Weibchen bei einer solchen Neuübernahme stets aufseiten der alten Löwen, weil sie ihren Nachwuchs beschützen wollen.“
Infantizid bei Übernahme – also die Tendenz, den Nachwuchs des Vorgängers zu töten, sei typisch für Säugetiere. Bei Menschen sei dies zwar nicht so drastisch, doch der neue Freund der Mutter sei nicht zwingend der beste Freund der Kinder.
Von einem Matriarchat innerhalb eines Löwenrudels zu sprechen, hält auch die Evolutionäre Anthropologin Katrin Schäfer von der Universität Wien für überzogen. „Tatsächlich ist das alles einen Tick komplexer.“ Zwar seien es die Weibchen, die den „Löwenanteil“ an Arbeit erledigen, wenn Gefahr im Verzug ist, werde das Rudel aber von den Männchen verteidigt. Kurz: Die Weibchen führen das Rudel mit den Jungen, dominiert wird es von den Männern.
Kein Realitätsbezug
Die US-Forscher stellen noch weitere Film-Behauptungen infrage, etwa das Konkurrenz-Verhältnis zwischen Simbas Vater und seinem Bruder. Hier stimmt auch Kotrschal zu: Tatsächlich seien es meist Brüder, die sich gemeinsam auf dem Weg machen, wenn sie ein neues Rudel übernehmen wollen. Ein Aspekt im Familienleben der Film-Löwen, der sich laut US-Forschern mit realen Beobachtungen deckt, ist die Zuneigung zwischen Löwen-Vater Mufasa und seinem Sohn Simba. Die Männchen würden es genießen, ihre Jungen kennenzulernen, diese zu lecken, den Kopf an ihnen zu reiben und dabei zu schnurren. Gebiert eine Löwin ein einziges Jungtier, ist eine besonders innige Beziehung denkbar. Der weitere Verlauf der Filmhandlung ist den Forschern zufolge eher im Reich der Fantasie angesiedelt: Spätestens im Alter von zwei Jahren sei es für die Männchen üblich, das Löwenrudel zu verlassen, um für einige Zeit durch die Savanne zu streifen. Im Alter von rund fünf Jahren würden sie sich einem neuen anschließen und danach nicht mehr zu ihrem ursprünglichen zurückkehren.
Ein evolutionärer Mechanismus, der sicherstellen soll, dass die genetische Vielfalt unter Löwen erhalten bleibt, erklärt Kim Young-Overton von Panthera, einer globalen Organisation zum Schutz von Wildkatzen in der New York Times.
Insgesamt sei ein Film-Natur-Vergleich aber lächerlich: „Es gibt keine plausiblen Naturgeschichten. Nur, weil dieser Film optisch sehr naturalistisch gemacht ist, heißt das nicht, dass er inhaltlich mit der Realität zu tun hat. Das ist auch nicht der Zweck eines solchen Films. Seit jeher haben Menschen Tiere als Allegorien verwendet, um Geschichten zu erzählen“, sagt Kotrschal.
Vermenschlichung
Der Idee, menschliche Eigenschaften auf Tiere zu übertragen, kann auch Anthropologin Schäfer nur wenig abgewinnen – auch wenn dies gerade bei Filmen und Serien für Kinder häufig der Fall ist: „So zu tun, als ob Tiere die gleichen Überlegungen hätten wie Menschen, ist meiner Ansicht nach kritisch.“ Denn anders als Menschen würden Tiere keine bewussten Entscheidungen treffen, sondern instinktiv reagieren.
Problematisch findet sie insbesondere, dass Tiere in solchen Filmen zur Projektion bestimmter Eigenschaften herhalten müssen. Besonders schlecht kämen im „König der Löwen“ die Hyänen weg – zu Unrecht, wie Schäfer meint: „Im Film werden sie als gemein und hinterfotzig dargestellt, dabei sind sie in der Realität hochsozial.“
Außerdem: Das Zusammenleben von Hyänen würde viel mehr von Weibchen dominiert werden als es bei Löwen der Fall ist. Beim Geschlechtsakt sind sie ebenfalls im Vorteil: Aufgrund der Anatomie ihrer Geschlechtsorgane, einer Art Pseudopenis, können die Weibchen bestimmen, von wem sie sich begatten lassen, weil sie aktiv mithelfen müssen.
Frage des Standpunkts
Ob nun Matriarchat oder Harem – für die Psychoanalytikerin Rotraud Perner (aktuelles Buch: Prinzesschen, Kämpferin ... Königin!, Edition Roesner) ist die Perspektive entscheidend: „Betrachtet man das Zusammenleben aus einem patriarchalen Blickwinkel, sieht man einen Löwen, der sich einen Harem hält. Aus einem feministischen Blickwinkel heraus kann man sagen, dass sich die Löwinnen einen Löwen zur Besamung halten.“
Vom Verhalten der Löwinnen könnten sich Frauen, die in unserer Gesellschaft zu Konkurrentinnen erzogen würden, durchaus etwas abschauen. Bei der Jagd würden sie stets zusammenhalten und den Männchen lediglich einen Teil der Beute zugestehen. Konkret bedeute das: „Solidarität unter Frauen.“