„Sind Sie vielleicht meine Mutter?“
Von Barbara Beer
Ein Kind auf der einen Seite des Erdballs, die Mutter auf der anderen. Das sind, sagen wir es vorsichtig, recht schwierige Voraussetzungen für eine gelungene Mutter-Sohn-Beziehung.
Der Bub ist sechzehn, als seine Eltern ihn 1938 fortschicken müssen. Mit einem Kindertransport schafft es Otto Tausig nach England. Er versucht, seine Eltern nachzuholen, aber dort will man nur gesunde Emigranten. Sein Vater, der ungarisch-jüdische Rechtsanwalt Aladar Tausig, leidet an einem Gehörschaden und wird abgewiesen. Franziska und Aladar Tausig gelingt die Flucht nach Schanghai. Die übrige Familie wird ermordet.
Den Vater sieht Otto nie wieder, die Mutter erst neun Jahre später. Man erkennt einander nicht. Am Bahnsteig in Wien tritt er vorsichtig an sie heran, fragt verlegen: „Entschuldigen Sie, sind Sie vielleicht meine Mutter?“
Der Schauspieler und Regisseur Otto Tausig, 1922 in Wien geboren, 2011 ebendort verstorben, stammte aus einer jüdischen Familie. Knapp entging er mit sechzehn Jahren einer Verhaftung durch die SS, ein geistesgegenwärtiger Nachbar rettete ihn, er schaffte es nach England, schlug sich als Land- und Fabriksarbeiter durch und musste 20 Monate in einem Internierungslager verbringen. Nach seiner Entlassung schloss er sich einer Theatergruppe an. Zurück in Wien, wurde Tausig Schauspieler, Regisseur und engagierte sich zeitlebens für humanitäre Projekte.
Trotz des Erfolgs: Die Mutter hätte es lieber gehabt, er wäre Bankbeamter geworden. Neun Jahre war sie wortwörtlich am anderen Ende der Welt und kaum hatte sie den Buben wieder – er war inzwischen ein verheirateter Mann, war allein vor Hitler geflüchtet und mit den widrigsten Lebensbedingungen fertiggeworden – zwang sie ihn, eine lächerliche Regenpelerine mit Kapuze anzuziehen und forderte, er möge die brotlose Schauspielerei aufgeben. So schildert es Otto Tausig im Nachwort, das er für die Lebenserinnerungen seiner Mutter verfasst hat.
Die Mutter-Sohn-Sache
„Schanghai Passage. Flucht und Exil einer Wienerin“ wurde erstmals 1987 veröffentlicht. Jetzt hat der Milena-Verlag das Buch erneut herausgebracht. Es ist durch und durch ungewöhnlich. Da ist zunächst diese verzwickte Mutter-Sohn-Sache. Jahrelang vermisst die Mutter ihr Kind, kann es nicht bemuttern und kaum hat sie wieder Gelegenheit dazu, übertreibt sie. Man versteht das. Auch längst erwachsene, allein lebende Kinder möchte man bekanntlich an der Hand nehmen, wenn man mit ihnen die Straße überquert.
Nuscheln wie Moser
Wehmut, Trauer und Tragik schildert Franziska Tausig in ihren anekdotenhaften Beobachtungen über Flucht und Schanghaier Exil mit viel Selbstironie. Vielleicht ist das der jüdische Humor. Oder einfach sehr wienerisches Tiefstapeln. Ihre Sprache ist nüchtern, nie pathetisch. Ihr unscheinbares Äußeres, schreibt sie, hilft ihr öfters bei Behörden – schön sei sie ja nie gewesen. Der Vater habe sich an ihren Anblick gewöhnt und ihrem Mann habe ihr großes Mundwerk imponiert. Mit diesem schlägt sie sich dann durch die bitteren Jahre in Schanghai, wohin Tausende Juden aus aller Welt geflohen und zu einer Exilantengemeinschaft geworden sind. Darunter der Herr Wein aus Floridsdorf und der Herr Tisch aus der Brigittenau und der Reiskoch Rudi, ein ehemaliger Schuhfabrikant, der dem Hans Moser nicht nur frappierend ähnelt, sondern auch genauso nuscheln kann wie dieser.
In Schanghai leben 1940 mehr als 3.000 österreichische Juden, hier existiert eine Wiener Subkultur mit Wiener Kaffeehäusern und Wirtshäusern. Freilich nur für jene leistbar, denen es gelungen ist, ihr Hab und Gut herüberzuretten. Bei den Tausigs ist das nicht der Fall. Franziska muss den Lebensunterhalt allein besorgen, Aladar ist krank. Das Mädchen aus gutem Hause, die Anwaltsgattin, putzt und wäscht für Wohlhabendere und bäckt Apfelstrudel und Sachertorte, um die Familie durchzubringen. Als die japanischen Besatzungstruppen 1943 den Stadtteil, in dem die Tausigs leben, zum Getto machen, wird es noch schlimmer. Das Wienerische wird Franziska Tausig immer bleiben. Den häufigen chinesischen Vornamen Lauzea spricht sie „Lauser“ aus, im Emigrantenspital kocht sie für die Schwerkranken Krautfleckerln und Guglhupf.
Einzig, als ihr Mann stirbt, scheint sie die Fassung zu verlieren, der Gedanke an Otto rettet sie. 1947 kehrt Franziska Tausig nach Wien zurück.
Ihre Erinnerungen enden hier, Sohn Otto ergänzt sie im untheatralischen und doch berührenden Nachwort. Es war mühsam mit ihr, gesteht er. Sie hat es nicht lassen können, sich in sein Leben einzumischen. Ist sogar, als sie die Beamtenidee verworfen hatte, zu einem Theaterdirektor gerannt, um diesen vom Talent ihres Sohnes zu überzeugen. Aber am Ende hat Otto sie irgendwo verstanden.
Bei allen Schwierigkeiten: Mutter und Sohn haben heute einen gemeinsamen Platz. 2013 hat man in Wien-Wieden an der Einmündung der Karlsgasse in die Gusshausstraße einen Platz nach ihnen beiden benannt.