Kolumnen

Paaradox: Augenstern & Handy-Nummer

Sie

Es ist eine etwas seltsame Liaison, die der Mann gegenüber da seit ein paar Jahren pflegt. Ja, man könnte – genau betrachtet –  von einem äußerst komplizierten Naheverhältnis zu seiner (Alters-)Weitsichtbrille sprechen, das ihn zuweilen an den Rand des Irrsinns bringt. Geprägt wird es von folgenden immer wieder kehrenden Fragen: 1. Hast du meine Brille irgendwo gesehen? 2. Hm, habe ich eh meine Brille mit? 3. Kannst du das ohne Brille lesen? 4. Wieso ist die Brille so schmutzig? Sowie, 5.: Ich Depp, warum habe ich mich schon wieder auf die Brille gesetzt?

Nachsicht

Von mir persönlich ist in Sachen Weitsicht also sehr viel jugendlich-flexible Nachsicht gefragt, zumal ich keine Ambitionen habe, mich als seine Seh-Hilfe zu profilieren. Frage Nummer 1 beantworte ich daher meist mit einem schlichten „Nein“, triumphiere manches Mal aber  mit meinem Talent fürs spürsinnige Suchen und Finden.

Dann detektiere ich das gute Stück auf dem Klo, gerne auch  zwischen den Seiten von Büchern wie „Das erschöpfte Gehirn“ oder in der Popschtasche jener Jean, die er lässig in den Schmutzwäschekorb geschupft hat. Doch statt mich dankbar als seinen Augenstern zu huldigen, sagt er dann nur sowas in der Art: Ah ja, danke, da hätte ich jetzt eh auch gleich gesucht…

Die Beantwortung der Fragen 2 und 3 sind hingegen relativ einfach. Bei Nr. 2 handelt es sich um einen Dialog von Michael zu Michael, also um ein Selbstgespräch, dem ich nichts hinzuzufügen habe, außer ein Kopfschütteln. Bei 3  gibt es  ebenso ein klares „Nein“, weil ich ohne meine Augengläser gar nix lesen kann, außer,  alles ist  in 18-Punkt-Schrift gedruckt. Bei Nummer 4 reiche ich mit eleganter Geste ein Putztuch.

Nur bei der letzten Frage spüre ich nagenden Unmut. Weil er sich im Laufe seines Brillenträger-Lebens geschätzte sieben Mal auf seine Sehhilfe gesetzt, gelegt oder mit ihr zu heftig gekuschelt hat. Wie ich bereits sagte: seltsame Liaison. Und  nicht sehr brillant.

gabriele.kuhn/facebook.com/GabrieleKuhn60

Er

Nietzsche schrieb: „Wer sucht, der geht leicht selbst verloren.“ Daran denke ich gerne, wenn ich meinen Orientierungslauf entlang sämtlicher potenzieller Brillenablageplätze starte und verzweifelte Dialoge mit mir selbst führe: „Bitte, darf das wahr sein? – Ja, offensichtlich bin ich tatsächlich so deppert.“

Die Lesebrille ist nämlich von enormer Bedeutung. Unter anderem dann, wenn meine Frau die essenziellen Fragen ihres Daseins in den Raum stellt. Was will das Universum von mir? Hat das Leben mehr als einen Sinn? Und vor allem: Hab’ ich jetzt mein Handy? Gefühlsmäßig telefoniere ich nämlich am häufigsten mit gnä Kuhn, wenn sie einen halben Meter neben mir steht. Weil sie mich mit flackerndem Blick um eine Ortung bittet: Kannst du mich einmal anrufen? Kann ich natürlich … vorausgesetzt, ich bin im Besitz meiner Brille.

Der GSBH-Griff

Dann stehen wir regungslos wie zwei Wildtiere an der Lichtung und lauschen gespannt. Bis im Bücherregal, über der Waschmaschine oder auf der Yogamatte endlich der erlösende Klingelton zu hören ist. Oder eben nicht, weil …. ui, ich habe auf stumm geschaltet. Wesentlich fordernder für die emotionale Balance wird es allerdings, wenn wir verreisen. Da gehört vor dem Verlassen der Wohnung der GSBH-Vierergriff zu meinen Ritualen.

Erst, wenn es Gewissheit gibt, dass Geldbörse, Schlüssel, Brille und Handy mit mir sind, sperre ich die Tür zu. Nicht so meine Frau. Die hat in ihrer Handtasche so viel Klumpert, dass es mindestens einen Siebzehnergriff bräuchte. Was verlässlich dazu führt, dass immer erst nach fünf bis sieben Reiseminuten die kuhn’sche Alarmfunktion aktiviert wird und die Smartphone-Suche einsetzt – und ja, wir haben deshalb auch schon öfter umgedreht und sicherheitshalber die gereizte Atmosphäre schweigend weggeatmet.

Mit Schiller im Kopf: „Abend wards und wurde Morgen / Nimmer, nimmer stand ich still / Aber immer bliebs verborgen / Was ich suche, was ich will.“

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