Wir müssen täglich eingeübte Rollenmuster ent-lernen
Von Heinz Wagner
Kürzlich wollte/sollte Nils Pickert in Wien sein Buch „Prinzessinnen-Jungs - Wie wir unsere Söhne aus der Geschlechterfalle befreien“ - siehe auch hier - in Wien vorstellen. Wegen der deutschen Corona-Reisewarnung musst die Live-Buchpräsentation abgesagt (verschoben?) werden. Der Kinder-KURIER „traf“ den Autor via Skype.
Zunächst zeigte er sich überrascht, dass wenig Kritik an seinem Buch von jener Seite gekommen sei, von der er’s erwartet hatte, „von Männerrechtlern. Da kam wenig. Aber es wäre ja auch verrückt. Ich bin ja nicht gegen Männer, bin selber einer, habe zwei Söhne, einen Bruder, einen Vater, Freunde… Und es sollte ja kein Glaubenskrieg sein.“
Wogegen richtet sich dann – noch einmal kurz gefasst – deine Kritik?
Nils Pickert: Ich sehe bestimmte Fallstricke, die ich gern aus dem Weg räumen würde, damit Männer so sein können wie sie Lust haben – dazu gehört wie er im Buch beschreibt natürlich, AUCH weich und zärtlich zu sein. Sie sollen nicht sich und andere gefährden. So viel Spaß haben wie möglich, ohne andere einzuschränken, zu verletzen.
Sein Sohn habe sich kürzlich beschwert, dass irgendwer in einem YouTube-Video-Kommentar zu unserem gemeinsamen Rock-Foto meinte, er sei froh, einen richtigen Vater zu haben. Die Rock-Aktion (fast weltweit berühmt wurde ein Foto wo Pickert mit seinem damals 5-Jährigen, der in einem Kleid, der Vater in einem Rock durch die Stadt gehen und sichtlich Spaß haben) regt noch immer auf?
Offenbar, dabei hatten wir das ohne Not gemacht und dabei richtig Spaß. Ich hab das ja nur aus Solidarität gemacht, weil er von anderen angegangen worden ist, weil er manchmal gern in Kleid oder Rock seiner Schwester unterwegs war. Hab aber damals schon darauf geachtet, dass er nicht mit seinem Gesicht zu sehen ist. Er ist im Übrigen heute weit weg von dem damaligen Jungen.
Dein Sohn ist jetzt in der Pubertät, verhält er sich nach wie vor nicht gängigen Rollenklischees?
Nils Pickert: Dem Großen ist es jetzt ein bisschen peinlich. Er ist 13 und will nicht so bildlich und massiv an sein 5-jähriges Ich erinnert werden, sich von seinem kindlichen Ich emanzipieren. Von dieser Form Prinzessinnen-Jungenhaftigkeit hat er sich weitgehend distanziert, sie steckt aber immer noch in ihm drinnen. Wenn ich ihn sehe, wie er insbesondere mit kleinen Kindern umgeht, wie begeistert er Zeit mit ihnen verbringt. Wie sehr er ein Auge für marginalisierte, diskriminierte Menschen hat, wie wichtig es ihm ist, Menschen zu helfen. Das erfüllt mich dann schon mit Glück und mit Stolz. Aber dass er keinen Bock mehr auf lange Haare oder Röcke und Kleider hat, das hab ich so schon kommen gesehen und ist ja auch sein Recht. Es steht mir überhaupt nicht zu, das irgendwie zu bewerten. Das wär ja das Gleiche nur umgekehrt.
Wie gegen den Strom schwimmen
Wie habt ihr als Eltern versucht, gegen den Strom von Geschlechter-Klischees zu schwimmen?
Nils Pickert: Meine Lebenskomplizin und ich wir haben vier Kinder – zwei Mädchen und zwei Jungs – im Alter von 15, 13, 5, 4. Wir wollten von Anfang an unsere Kinder nie in Rollenklischee, in Boxen pressen wollen. Klar, meine Lebenskomplizin und ich habe uns das vorgenommen, soweit wie möglich gegen diese Schubladen zu stemmen. Zu diesem Programm gehört aber auch, sich klar zu machen, dass das ein sich wehren, ein ent-lernen ist, und wir immer wieder zu Punkten kommen, wo uns genau diese Rollenklischees überwältigen, wo wir daran scheitern, um es am nächsten Tag zu versuchen, es besser zu machen.
Ich glaube, dass man nicht vorurteilsfrei erziehen kann, weil die Welt und die Menschen nicht so gestrickt ist/sind. Wir müssen ständig sehr, sehr schnell entscheiden auf Basis vollkommen unzureichender Informationen. Dazu gehört oft, wenn ein Mensch lange Haare hat, zu sagen: Dann ist sie höchstwahrscheinlich eine Frau und wenn sie muskelbepackt ist, höchstwahrscheinlich ein Mann. Dementsprechend verhalt ich mich dann.
Also wie erziehst du, wie erzieht ihr eure Kinder?
Nils Pickert: An ein Konzept der Geschlechtsneutralität glaub ich nicht. Geschlecht ist ja wirkmächtig. Ich halte nichts davon, meinen Kindern zu suggerieren, dass es nicht so wäre. Im Bemühen, unsere Kinder so frei wie möglich aufwachsen zu lassen, muss es darum gehen, ihnen zu erläutern und zu verdeutlichen, welche Anforderungen die Gesellschaft an sie stellt. Was sie dann damit tun, wie sie damit umgehen, das ist komplett bei ihnen.
Aber meinem Sohn vielleicht nicht zu erzählen, dass ihn vielleicht Leute schräg angucken, wenn er einen Rock oder ein Kleid trägt, das fänd‘ ich ein bisschen fahrlässig, weil er dann – wenn es passiert – nichts damit anfangen kann.
Wir müssen uns komplett davon verabschieden, dass wir unsere Kinder neutral und wertfrei erziehen.
Gewalt als Versagen und Kontrollverlust erlebt
Du beschreibst in deinem Buch unter anderem, dass du selber mit Gewalt aufgewachsen bist. Wie und wodurch hat sich das verändert? Wie bist du dazugekommen, anders zu erziehen?
Nils Pickert: Mein Vater war ja beides – neben fallweisen Gewaltübergriffen war er liebevoll, aufopfern und vor allem lustig.
Ich erinnere mich an drei, vier Begebenheiten, die ich als Jugendlicher oder junger Mann hatte, die ich mit Gewalt gelöst habe. Ich hab aber auch sehr früh gemerkt, das ist nichts, worauf ich stolz bin. Vielleicht auch durch die eigene Gewalterfahrung. Immer war das mit dem Gefühl von Versagen, Scham und Kontrollverlust verbunden.
Aber ich weiß auch, das ist vergleichbar mit einem trockenen Alkoholiker. Es gibt Situationen, da kocht’s in mir hoch und erfordert sehr viel Energie, das niederzuringen. Je älter ich werde, desto leichter gelingt mir das glücklicherweise.
Ich versuche meine Vaterschaft so zu leben, dass ich meine Erlebnisse mit meinem Vater nicht negiere. Ich will mich an die Dinge halten, die ich bei ihm schön fand. Gütig, zärtlich und lustig und toll. Das ist das woran ich mich festhalten will und die anderen Dinge lehne ich ganz bewusst ab, aber es ist trotzdem … ich halte es für sehr gefährlich so zu tun, als hätte man einen Vater nicht gehabt, wenn man einen hatte, so zu tun als hätte einen das nicht geprägt. Dann läuft man Gefahr, Dinge zu wiederholen, die einem überhaupt nicht gefallen. Weil man nicht damit arbeitet, bewusst wird …
Wie bist du jenseits der Gewalterfahrung sozialisiert worden, klassisch sogenannt männlich oder hattest du auch andere Vorbilder?
Nils Pickert: Beides. Ich hatte die klassische männliche Sozialisation, aber wie schon erwähnt das Glück, dass mein Vater auch sehr liebevolle und aufopfernde Seiten an sich hatte. Meine Mutter war Feministin, die sich in der DDR sehr gegen die Herrschenden zur Wehr gesetzt hat, die mein Leben mit ganz vielen Büchern bereichert hat. Sie war Tänzerin und hat auch Tanz unterrichtet. Da gab es ganz viel Raum und Wertschätzung für Menschen, die auch in der DDR als außerhalb der Norm galten.
Meine Kindheit und Jugend waren sehr geprägt von queeren Menschen von schwulen und lesbischen Personen, die kreativ waren und lustig und freundlich und ganz stinknormal. Und es war gar keine Frage, dass die zu meinem Leben dazugehören und zu den Leben von allen dazugehören sollten.
Das hat mich aber wiederum auf dem Schulhof nicht daran gehindert, Gleichaltrige als Schwuchtel abzuwerten – auf die Gefahr hin, dass sie’s sonst mit mir tun. Zwei Pole haben in mir gestritten: Das klare Bewusstsein, dass das falsch ist und auch sehr deutlich mein Scheitern daran. Je mehr ich das überwunden habe, umso mehr war ich bei der Wertschätzung dieser Menschen und gleichzeitig bei mir selbst.