Chronik/Wien/Wien-Wahl

Die Anatomie von Rot-Pink

So gut gefüllt wie am Dienstag war der Vorraum des Neos-Rathausklubs, der gleichzeitig für Pressekonferenzen herhalten muss, wohl noch selten; im abgelaufenen Wahlkampf war er es definitiv nie. Dass nun Rot-Pink als ernsthafte Alternative zu Rot-Grün auf dem Tisch liegt, ließ das Interesse an den Stadt-Liberalen und ihrem Chef Christoph Wiederkehr aber sprunghaft ansteigen.

Dass diese Koalitionsvariante mehr als eine mathematische Option ist, zeigte sich am Dienstag, als sich der neue Leopoldstädter Bezirksvorsteher Alexander Nikolai via oe24 offen für Rot-Pink aussprach. „Wir sind stinksauer auf Birgit Hebein. Jetzt ist es Zeit für etwas Neues“, sagt er. Ein SPÖ-Neos-Bündnis könnte hingegen richtungsweisend sein.

Der so umworbene Neos-Chef Wiederkehr gab sich am Dienstag noch routiniert abwartend: Mit dem Zwischenergebnis vor Wahlkarten sei man „sehr, sehr zufrieden“, der „gute und faire Wahlkampf“ sowie die „Haltung der Menschlichkeit und Konstruktivität“ seien belohnt worden.

Warten auf Ludwig

Nun warte man erst auf das amtliche Endergebnis und dann auf die Gesprächseinladung des Bürgermeisters. Dass die Neos gerne mitregieren würden, bekräftigte Wiederkehr: „Wir sind offen, in offene und konstruktive Gespräche zu gehen“. Das Ziel: Eine „Reformkoalition“.

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Welche Reformen der 30-Jährige da vor Augen hat, hat er bereits vor der Wahl offen kommuniziert und fünf Forderungen präsentiert, „die bis 2025 umzusetzen sind“. Für den – zum damaligen Zeitpunkt – Spitzenkandidaten einer Sechs-Prozent-Partei ein Schritt, den man je nach Perspektive als mutig oder auch als größenwahnsinnig bezeichnen kann.

Bildung, Transparenz, Entbürokratisierung

Fakt ist, die Punkte liegen auf dem Tisch; die SPÖ wüsste also ziemlich genau, worauf sie sich einlassen würde.

Die erste Neos-Forderung ist, wenig überraschend, mehr Geld für die Bildung. Die Kindergärten bräuchten mehr Pädagogen, die Pflichtschulen mehr Unterstützungspersonal, um die Lehrer zu entlasten.

Die zweite Forderung sind „gläserne Parteikassen“, sprich, der Stadtrechnungshof soll künftig in die Parteifinanzen schauen dürfen.

Zum Dritten wünschen sich die Neos Entlastung für die Unternehmen. Bagatellsteuern müssten gestrichen und die Bürokratie zurückgefahren werden, damit die Betriebe wieder „mehr Luft zum Atmen“ bekämen und dadurch auch wieder neue Arbeitsplätze schaffen könnten. Besonders angesichts der Corona-Krise sei das aktuell die „wichtigste Zukunftsfrage“, sagte Wiederkehr am Dienstag.

Was geht

Während man sich bei den Grünen hütet, rote Linien für eine Koalition mit der SPÖ zu nennen, ist zumindest das Verhandlerteam fixiert: Parteichefin Birgit Hebein, Klubchef David Ellensohn und die Gemeinderäte Peter Kraus, Judith Pühringer, Jennifer Kickert und Martin Margulies werden die Gespräche führen.

Leicht sollten sich die sechs  mit der SPÖ beim Thema Klimaschutz tun: Immerhin will Hebein Wien zur „Klimahauptstadt“ machen, und Ludwig  hat Wien zur „Klimamusterstadt“ ausgerufen.  Neben den Bereichen Bildung und Wirtschaft war man sich zuletzt auch  in Integrationsfragen einig: Beide Parteien wollen Flüchtlingskinder aufnehmen.

Wo es sich spießt

Auf keinen grünen Zweig kam man dagegen beim Verkehr: Mit Pop-up-Radwegen oder der „autofreien“ City hat Hebein Ludwig gereizt – nicht zu vergessen die diametral entgegengesetzten Positionen beim Lobautunnel.

Die vierte Bedingung ist ein Klimaschutzgesetz für Wien, die fünfte ein Fokus auf die Außenbezirke. Innerhalb des Gürtels sei unter Rot-Grün viel Positives entstanden, nun brauche es eine Grätzel-Offensive in der Fläche. Konkret schweben den Liberalen eine Öffi-Offensive, eine bessere Radinfrastruktur und neue Märkte vor.

Doch wie realistisch ist ein Bündnis zwei so ungleicher Partner? Hier die etwas behäbige, machtbewusste SPÖ. Dort die junge, liberale Kleinpartei.

„Unterm Strich sind uns die Grünen inhaltlich deutlich näher“, analysiert ein roter Funktionär. In vielen Bereichen gebe es aber auch mit den Neos große Übereinstimmungen, betont er.

Kaum Stolpersteine

Und tatsächlich: Betrachtet man das pinke Fünf-Punkte-Papier, erscheint es weniger wie ein Forderungskatalog als ein Bewerbungsschreiben. Zu mehr Geld für Bildung wird die SPÖ wohl kaum Nein sagen, auch nicht zu mehr Klimaschutz. „Sonst marschieren die Grünen in fünf Jahren in Richtung 25 Prozent“, sagt der rote Funktionär.

Was geht

Wenig Diskussionsbedarf zwischen SPÖ und ÖVP gibt es beim Thema Verkehr. Beide Parteien bekennen sich zum Beispiel zum Bau des Lobautunnels. Bei möglichen Verhandlungen  wird  die SPÖ der ÖVP wohl auf wirtschaftspolitischer Ebene nachgeben können. Das hieße etwa: Einführung von Tourismuszonen, in denen man sonntags einkaufen kann (wie sie die ÖVP will) – dafür Abschaffung der Dienstgeber- Abgabe oder der Luftsteuer.

Wo es sich spießt

Diese Liste ist deutlich länger. Sehr wenig Übereinstimmung gibt es allen voran beim Thema Integration. Eine der Hauptforderungen der ÖVP im Wahlkampf – Deutschkenntnisse als Zugangskriterium für eine Gemeindewohnung – ist für Michael Ludwig ein No-Go. Auch Mieterhöhungen für besser verdienende Gemeindebau-Bewohner wird es mit der SPÖ nicht geben. Ebenso wenig strengere Regeln bei der Mindestsicherung. 

Die stärkere Hinwendung zu den Außenbezirken wurde bereits mit der Kür des Floridsdorfers Michael Ludwig zum Bürgermeister eingeleitet.

Steuerentlastung und Entbürokratisierung sind auch keine roten Tabuthemen. Bleibt der heikle Bereich Transparenz: „Aber auch dazu würde uns schon was einfallen“, sagt der SP-Mann mit einem gewissen Augenzwinkern. Richtig heikel würde es aus seiner Sicht erst dann werden, wenn die Neos in klassisch liberaler Manier auf die Privatisierung wichtiger Teile der kommunalen Daseinsvorsorge bestehen würden. Doch das steht ohnehin nicht wirklich auf der pinken Agenda.

Klare Zuständigkeiten

„Wichtig ist, dass bei einem Bündnis zweier so unterschiedlich großer Parteien ganz klar definiert wird, wer wofür zuständig ist und wie man sich aufeinander abstimmt“, sagt der SP-Funktionär und verweist auf die Erfahrungen der vergangenen zehn Jahre: Zunächst habe die Kooperation mit den Grünen noch sehr gut funktioniert, ohne dass man einander ins Gehege geraten wären.

Nach gegenseitigen Fouls sei davon nicht mehr viel übrig, wie zuletzt die vielen Alleingänge von Birgit Hebein im Wahlkampf gezeigt hätten. Einer der Hauptgründe, warum immer mehr Rote lieber mit den Neos als mit den Grünen regieren möchten. Vor allem unter den Genossen in den Außenbezirken.

Bleibt noch die Personalfrage. Doch auch hier sieht man in der SPÖ keine unüberwindbaren Hürden: „Es ist klar, dass sich die Neos nicht mit dem Kulturressort zufriedengeben werden“, sagt ein verhandlungserprobter Genosse. Er kann es sich durchaus vorstellen, dass man Christoph Wiederkehr sein absolutes Lieblingsressort – Bildung – überlässt. Das sei jedenfalls wesentlich realistischer als die Abtretung eines roten Kernressorts wie Finanzen oder Wohnbau.

Im Laufe des Dienstag sah es zeitweilig aus, dass  der Traum in rot-pink  jäh noch platzen könnte, noch ehe sich Ludwig zur  ersten Sondierungsrunde mit Wiederkehr trifft. Womit wir wieder bei der Mathematik wären: In der SPÖ rechnete man noch mit der Möglichkeit, dass nach Auszählung der Wahlkarten SPÖ und Neos gemeinsam zwar immer noch eine Mandatsmehrheit im Gemeinderat  schaffen, sich aber jene im Stadtsenat nicht mehr ausgeht. Im Laufe des Abends zeichnete sich aber ab, dass SPÖ und Neos sehr wohl stark genug sein werden.

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