Chronik/Wien

Stell dir vor, es ist Gemeinderat und fast keiner hört zu

Drei Abgeordnete stehen im Innenhof des Rathauses, rauchen, tratschen. Ein weiterer telefoniert in einer Ecke. Und drei andere besprechen sich im Buffet.

Was die Mandatare unterschiedlichster Couleur verbindet? Sie sollten eigentlich der Budgetdebatte im Gemeinderat beiwohnen.

Es sind Bilder, wie man sie aus Nationalratssitzungen im Fernsehen kennt. Während vorne Reden gehalten werden, sind die Reihen im Plenum nur spärlich besetzt. Manchmal sind sie sogar leer.

Bis zu 12 Stunden

Im Wiener Gemeinderat ist das nicht viel anders. Auch nicht bei der wichtigen Budgetdebatte, die am Donnerstag stattfand und die heute, Freitag, fortgeführt wird. Es sind zwei anstrengende Tage mit bis zu zwölf Stunden langen Sitzungen für die 100 Abgeordneten.

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Der KURIER hat sich vor Ort ein Bild von der Sitzungsdisziplin gemacht – und den Sitzungstag mit den Abgeordneten durchlebt.

Um 9 Uhr beginnt die Debatte mit einer Rede des roten Finanzstadtrats Peter Hanke. Eine Stunde hat er Zeit, den Budgetvoranschlag dem Plenum zu präsentieren. Auf 40 Minuten hat er seine Redezeit selbst beschränkt – wohlwissend, dass allen Abgeordneten noch ein langer Tag bevorsteht. Danach folgt zuerst die sogenannte General-, dann die Spezialdebatte.

Wegen Corona im Festsaal

Die Sitzung findet im Festsaal des Rathauses statt, in dem man Einzeltische für alle aufgestellt hat. Der Gemeinderatssaal ist – seit Corona – zu klein und zu eng für so viele Menschen.

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Anfangs sind nicht nur die Mandatare anwesend – sondern auch der Bürgermeister und seine Stadträte. Sie werden den Saal spätestens bis Mittag räumen. Und viele andere werden ihnen folgen. Zumindest zwischenzeitlich.

Während im Festsaal um 9 Uhr mit mehr als 100 Personen – inklusive Stadträten – Vollbesetzung herrscht, zählt man um 10 Uhr nur noch

73 Politiker. Um 13 Uhr, zur besten Mittagessenszeit, sind es 44 Mandatare. Der Tiefpunkt des Tages. Am Nachmittag erholt sich die Sitzungsdisziplin leicht.

Politische Logik

Die Anwesenheit der Politiker folgt einer Art Choreografie, einer politischen Logik. Erste Regel: Wenn Parteikollegen zu Wort gemeldet sind, dann kehrt die Fraktion möglichst geschlossen zurück in den Saal. (Nur bei der SPÖ klappt das kaum, sie hat dafür in Wien wohl zu viele Abgeordnete.)

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Zweite Regel: Wenn das politische Gegenüber spricht, darf man wieder gehen. (Alternativ kann man dazwischenrufen.) Je konträrer die Ansichten des Redners, desto rascher darf man gehen. Sobald etwa ein Grüner am Wort ist, haben die Blauen Rauchpause.

Beim Koalitionspartner bleibt man höflich sitzen. Spezialfall: Wenn ein FPÖ-Mandatar spricht, dann dürfen gefühlt alle gehen. So ist es sicher kein Zufall, dass um 13 Uhr ausgerechnet der blaue Gemeinderat Udo Guggenbichler vor nur 44 Anwesenden spricht.

Die Wichtigkeit des Schnitzels

Freilich: Auch der Gang zum Mittagstisch spielt eine Rolle. Wenn im Nordbuffet die Schnitzel brutzeln, lichten sich im Saal traditionell die Reihen. Ähnlich verhält es sich bei Einbruch der Dämmerung. Die „Geisterstunde“ nennt das am Donnerstag ein Abgeordneter.

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Momentaufnahmen

Der KURIER war von 9 Uhr bis 21.30 Uhr bei der Sitzung anwesend – und hat im 30-Minuten-Takt die Zahl der an-wesenden Abgeordneten erhoben. Das sind jeweils nur Momentaufnahmen, einen spannenden Gesamteindruck hinterlassen sie dennoch: Im Schnitt waren über den Tag hinweg rund 64 Prozent der Mandatare anwesend.

"Eigentlich gut"

Ist das wenig oder viel? „Das ist ganz gut eigentlich“, findet der grüne Stadtrat Peter Kraus. Überhaupt wenn man bedenke, dass nur die Generaldebatte nach der Budgetrede für alle Abgeordneten spannend ist; die Spezialdebatte danach betrifft vor allem die fachlich zuständigen Abgeordneten.

Auch mal ein WhatsApp

Dennoch: Die Debatte um leere Bänke bei Plenarsitzungen in Parlamenten oder Gemeinderäten gibt es seit Jahren. Zuletzt sei sie stark von populistischen Parteien – in Deutschland etwa von der AfD – forciert worden, sagt Politikwissenschafterin Katrin Auel vom Institut für Höhere Studien (IHS). „Dass nicht alle Abgeordneten im Plenum sitzen, interpretieren sie als Faulheit und Desinteresse“, sagt sie.

Böse Zungen

Und nicht nur die AfD macht das. Böse Zungen behaupten etwa, die Nationalratsabgeordneten hierzulande seien nur so lange im Parlament anwesend, bis der ORF seine Kameras abdreht.

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"Der Blick ins Plenum ist oft der einzige Einblick, den Bürgerinnen und Bürger haben“, sagt Auel. „Der Plenarsaal ist sichtbar – die ganze andere Arbeit oft nicht. Das erweckt bei Zuschauern den Eindruck, die Abgeordneten würden ihre Arbeit nicht machen.“

Dabei tun sie während der Sitzung oft genau das. Manche checken ihre Mails, manche bearbeiten ihre Unterlagen am Laptop. Und ja, manche schreiben zwischendurch auch WhatsApp.

Politische Bühne

„Natürlich könnten immer alle 100 Abgeordneten anwesend sein“, sagt SPÖ-Klubchef Josef Taucher. Aber: „Wenn Abgeordnete nicht an ihrem Platz sitzen, heißt das nicht, dass sie nicht arbeiten.“ Sie bereiten ihre Reden vor, besprechen sich im Klub und mit den Stadträten, bereiten Anträge vor oder diskutieren das Abstimmungsverhalten.

Allein am Donnerstag wurden 76 Anträge eingebracht, für den Freitag weitere 56 – über diese 132 Anträge müssen die Abgeordneten heute, Freitag, abstimmen.

Volk und Vertreter

Wer glaubt, bei Plenarsitzungen jeglicher Art würden ausschließlich große inhaltliche Debatten im Fokus stehen, irrt. „Die Plenarsitzungen sind eine politische Bühne“, sagt Auel. Und das sei nicht grundsätzlich schlecht. Es geht dabei vor allem um die Kommunikation zwischen Volksvertretern und Volk.

Das Volk selbst ist übrigens nur mäßig interessiert – zumindest online: Donnerstag gab es 3.400 Zuschaltungen zum Sitzungs-Livestream. Und selbst im Rathaus erzählt man: Das seien vor allem Mitarbeiter.

Der Gemeinderat

Der Wiener Gemeinderat besteht aus 100 Abgeordneten, die gleichzeitig auch Abgeordnete zum Landtag sind.  Sie sind für eine Legislaturperiode von fünf Jahren gewählt. Ihr  Monatslohn beträgt   7.273 Euro  brutto

Freies Mandat

Die Abgeordneten haben ein sogenanntes „freies Mandat“. Das heißt, sie können frei über ihr Abstimmungsverhalten entscheiden. De facto herrscht in den Parteien aber ein Klubzwang – Abgeordnete entscheiden also in der Regel nach Fraktionssicht