Chronik/Österreich

Wohngruppen für junge Täter: Betreuung statt Bewachung

Stefan Turri platzt herein. Mit ihm dringt ein heller Lichtkegel in den dunklen Wohnraum: Jeans, bunte Pullis und Arbeitsschuhe säumen den Weg zum Bett. Darin regt sich etwas. Ein verschlafener Jugendlicher zieht sich die Decke vom Kopf. „Warum bist du im Bett?“, fragt Turri. „Krank“, hallt es aus dem dunklen Eck zurück.

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Hier, im SOS-Kinderdorf in NÖ, ist niemand lange alleine. Auf acht Jugendliche, die aus zerrütteten Familienverhältnissen stammen, kommen sechs Betreuer. Bald, so schwebt es Chef Turri vor, könnten hier auch junge U-Häftlinge einziehen. „Das Konzept“, sagt er, „steht“. Es sei gelebte Praxis.

Im Vorjahr wurde nach Übergriffen in der Jugendhaft klar: Ein Gefängnis ist für (kriminelle) Jugendliche in der Regel der falsche Ort. Experten erarbeiteten ein Reformpapier: Die Zauberformel lautet „betreute Wohngruppen“ statt U-Haft-Zellen.

Ohne Schlüssel

Der gebürtige Italiener Turri, der acht Jahre lang Bewährungshelfer war, führt durch sein Reich, einen adaptierten Bauernhof. Einen Schlüssel braucht er nur für leer stehende Zimmer: „Hier wird betreut und nicht bewacht.“

Das ist wohl der offensichtlichste Unterschied zwischen Zellen und den Jugendzimmern hier: Soziale Vereine wie das SOS-Kinderdorf, die als Partner der Justiz fungieren könnten, lehnen Hausarrest kategorisch ab.

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„Jugendliche brauchen keine Strafe, sondern Konsequenz“, erklärt Sozialpädagoge Turri. Die gibt es in Form von Regeln: Je selbstständiger Jugendliche sind, desto selbstbestimmter dürfen sie leben. Im besten Fall klopfen sie kurz an, um sich abzumelden. Im schlechtesten Fall ist immer ein Betreuer dabei.

Den oft überforderten Beamten in der Justiz steht in Wohngruppen eine kleine Armada aus Sozialpädagogen gegenüber. Solche Fachkräfte fehlen der Justiz: Wie KURIER-Recherchen ergaben, ist österreichweit für 107 Jugendliche (Stand 20. 1.) nur eine Sozialpädagogin fest angestellt. Wenn, wie zuletzt im KURIER, eine Anstaltsleiterin mehr Fachkräfte fordert, stellt sie die Justizgewerkschaft an den Pranger.

Am Geld liegt es nicht. Denn die Justiz gibt mit über 300 Euro pro Jugendlichem am Tag mehr aus als das betreute Wohnen kostet (zwischen 160 und 250 Euro).

Stabile Beziehung

Auf dem Balkon steht ein groß gewachsener Mann, daneben ein Bursche mit Lippen-Piercing in einer blauen Adidas-Weste. Die beiden sind ein Gespann: Der Einzelbetreuer ist so etwas wie ein Mentor. Er gibt dem Jungen, was ihm die Gesellschaft und seine Familie vorenthalten haben – eine stabile Beziehung. „Er sagt ihm nicht, wie er zu leben hat, sondern denkt mit ihm über sein Leben nach“, erklärt Turri.

Das SOS-Kinderdorf ist nicht nur eine befristete Bleibe, sondern eine Art Übungswiese. Turri nennt es „Lebensschule“: Es geht um soziale Kompetenz, Unrechtsbewusstsein, Bildung. Oft sind es banale Dinge, die eintrainiert werden. Was ist zu tun, wenn an einem gekauften Hemd Knöpfe fehlen? Nicht wegschmeißen, sondern zurückgeben, rät Turri.

Den Einwand, es habe auch Missbrauchsfälle in SOS-Kinderdörfern gegeben, lässt der Sozialpädagoge zwar gelten, aber mit einer Einschränkung: „Ausschließen kann man es nie. Allerdings haben wir genug Personal, um uns um die Jugendlichen zu kümmern.“
Turri tänzelt freudig um den Billardtisch. Junge U-Häftlinge könnten hier mit anderen Jugendlichen Seite an Seite spielen. Vorausgesetzt, sie sind nicht gefährlich oder drogenkrank. Dafür gäbe es dann doch Anstalten.

Lesen Sie morgen: Kameltrekking mit jungen Straftätern.

Bisher erschienen:

Die Jugendhaft auf dem Prüfstand

Jugendhaft neu: Viel Kosmetik

Interview: „Weniger Haft ist uns ein Anliegen“

Abschreckungsmodell: Probesitzen im Gefängnis

Justizmodelle: In 15 Schulen sind Sozialarbeiter als Konfliktlöser unterwegs