Spurlos verschwunden: Wo ist Jenni?
Es ist 1.16 Uhr in der Früh, als die 21-jährige Jennifer Scharinger ein Bild an ihre Freundin schickt. Jenni steht neben ihrem Freund in einer Parkgarage in Wien, beide lächeln in die Kamera. Jenni schreibt dazu: „Bin save (sic!)“
Dann ist Jenni weg. Wie vom Erdboden verschluckt.
Brigitta Scharinger, Jennis Mutter, hat viel über dieses Foto nachgedacht. Ist dieses Lächeln aufgesetzt? Wirkt ihre Tochter nicht eher ein wenig genervt?
Das Foto entstand am 22. Jänner 2018. Seither sucht die Mutter nach ihrer vermissten Tochter. Auch mit Gummistiefeln und Schaufel, wenn sie sich wieder einmal auf den Weg in die Wälder macht, um die Leiche ihrer Tochter zu finden. Beweise, dass Jenni tot ist, gibt es nicht. Doch viele Indizien.
Jennifer Scharinger wuchs in Hanfthal in NÖ auf. Mit 16 brach sie die Schule ab, suchte sich einen Job und zog in eine Wohnung in der Ospelgasse in Wien-Brigittenau. Später holte sie die Matura nach, begann mit dem Jus-Studium. "Sie hat unser Leben bestimmt", sagt ihre Mutter. "Das tut sie noch immer. Jenni ist immer im Mittelpunkt."
Am Tag vor ihrem Verschwinden besucht sie mit ihrem Freund die Mutter. Wegen einer kleinen Irritation trennen sich Brigitta Scharinger und ihre Tochter an diesem Tag ohne Verabschiedung. „Sie hat sonst immer gedrückt und umarmt. An diesem Tag nicht. Sie ist gegangen, ohne sich zu verabschieden. Diese Wunde wird nie heilen“, sagt Brigitta Scharinger.
Abends trifft Jenni in Wien noch ihre Freundin Ali, die jungen Frauen trinken Cocktails, plaudern. Nicht sei auffällig gewesen, erinnert sich die Freundin später an das Treffen. Jenni war gut gelaunt, sie sprach über ihre Pläne. Doch sie versäumt den letzten Zug, ihr Freund holt sie ab – dann entsteht das letzte Bild.
Was danach passiert ist, liegt im Dunkeln. Hausbesorgerin Eva Hiess will sie danach noch im Stiegenhaus gesehen haben. "Das war am Vormittag. Sie ist aus der Wohnung gekommen, sie war total weiß im Gesicht. Ich hab sie angesprochen. Aber sie hat gesagt: ,Ich hab jetzt keine Zeit. Alles in Ordnung.'"
Doch an dieser Begegnung zweifelt Brigitta Scharinger. Besser gesagt daran, ob das Treffen am 22. Jänner stattfand - oder nicht doch früher. Das Gewand, das Jenni da angehabt haben soll, passt nicht. Es liegt in der Wohnung. Die Kleidung, die Jenni allerdings bei ihrem Treffen mit der Freundin anhatte, die fehlt. Erst neun Tage später wird die 21-Jährige vermisst gemeldet. Sie war, nach ein paar Tagen Urlaub, nicht im Büro aufgetaucht.
„Jenni hat mit plötzlich angeschrien. Sie hat sich getrennt, ich sollte ausziehen“, sagte der Freund zur Polizei. Dann sei sie aus der Wohnung gestürmt. Doch Handy, Geldbörse und Ausweise blieben in der Wohnung.
Für Anwalt und Detektiv Andreas Schweitzer ist das nur ein Faktum, das den Fall bemerkenswert macht. "Gerade in der heutigen Zeit ohne Handy abzuhauen - das passt nicht", sagt er. Mutter Scharinger hatte ihn engagiert, um nach ihrer Tochter zu suchen. "Mein erster Eindruck war: Das stinkt gewaltig."
Zwei Mal war Jennis Freund danach noch mit seinen Eltern in der Wohnung, um seine Sachen zu holen. Dass Jennis Habseligkeiten noch immer unberührt im Vorzimmer lagen, machte ihn nicht misstrauisch.
Erst danach erfährt Brigitta Scharinger vom Verschwinden ihrer Tochter. „Am 30. Jänner stand um 22.30 Uhr die Polizei vor dem Haus. Da trifft dich eh schon halb der Schlag. Sie wollten nachschauen, ob die Jenni da ist. Sie wurde vermisst gemeldet“, erinnert sich Mutter Brigitta. Wenig später veröffentlicht die Polizei Fotos von Jenni. Angebliche Sichtungen der jungen Frau in Wien werden gemeldet. Sie stellen sich allesamt als falsch heraus.
Doch die Handys und Computer von Jenni und ihrem Freund liefern mehrere heiße Spuren. Schnell stellt sich heraus: Die beiden dürften schon seit Monaten getrennt gewesen sein. Jenni erzählte niemandem davon. Ihr Freund lebte weiterhin in der Wohnung.
Doch das ist nur der Anfang. Am Handy des Freundes lassen sich gelöschte Aufnahmen wiederherstellen. Sie zeigen Jenni nackt im Schlafzimmer. Aufgenommen wurden sie mit einer versteckten Kamera.
Im Google-Suchverlauf finden sich Einträge wie „K. O.-Tropfen“ oder „fiese Drogen im Glas“. Er habe das selbst ausprobieren wollen, erklärt der Freund dazu der Polizei.
Doch Verdacht weckt auch eine Irrfahrt am Tag des Verschwindens von Jenni. Laut Handyauswertung war der Freund in einem abgelegenen Waldstück im Bezirk Hollabrunn. Er sei herumgefahren, habe Dampf ablassen müssen, rechtfertigt er sich später.
Die Ermittler stufen diese Fahrt als höchst verdächtig ein. Zahlreiche Suchaktionen mit Leichenspürhunden der Polizei werden im Gebiet veranlasst. Eine weitere Spur führt zum Stausee in Ottenstein. Dort suchen Taucher der Cobra nach Jenni. "Der See ist 55 Meter tief. Es ist möglich, hier spurlos zu verschwinden. Kameras gibt es nur an der Staumauer", sagt Stefan Zach, Sprecher der EVN, die die Stausee betreibt.
Brigitta Scharinger greift daraufhin selbst zum Spaten. Sie holt sich Hilfe von Hundeführern. Auch ihre Hunde schlagen in dem verdächtigen Waldstück an. Ulli Panzenböck und ihr Hund Clooney sind ein Helfer-Duo. „Jedes Mal, wenn der Hund etwas bringt, denkt man sich: Hoffentlich ist das nicht ein Teil von Jenni“, schildert Panzenböck. Sie kannte die Vermisste persönlich. "Wir haben den letzten Silvester miteinander verbracht. Wir hatten beide Dienst", erinnert sie sich. Jenni habe urlaubsreif gewirkt, erinnert sie sich. Und sie habe sich Gedanken über ihr Privatleben gemacht.
Schritt für Schritt werden alle Möglichkeiten, was mit Jenni passiert sein könnte, abgearbeitet. Selbstmord? Untergetaucht? Entführt? "Es wurde natürlich in alle Richtungen ermittelt. Schlussendlich blieb dann nur mehr der schlimmste Gedanke. Dass sie ermordet worden ist und man ihren Körper beiseite geschafft hat", sagt Anwalt und Detektiv Schweitzer.
Das Elternhaus des Freundes im Waldviertel wird durch die Polizei mehrmals durchsucht. „Sie haben geglaubt, unser Sohn ist ein leichtes Opfer. Die Polizisten wollten einen schnellen Erfolg“, sagen die Eltern des jungen Mannes. Sie seien von den Beamten schikaniert worden, beklagen sie sich. Und sie sind von der Unschuld ihres Sohnes überzeugt.
Doch warum die Kameras? Weil er Schmuddelfilme drehen wollte, sagt der Freund. Um Beweise gegen einen Drogendealer zu haben, erklären seine Eltern.
Wo Jenni geblieben ist? Dazu haben sie zwei Erklärungen: Jenni sei längst wieder da. „Sonst hätte man ja eine Leiche gefunden.“ Oder: Jenni hat sich dem IS in Syrien angeschlossen. Für beide Vermutungen gibt es keinerlei Hinweise.
Mutter Scharinger ist überzeugt, dass Jenni im Wald begraben ist. „Anscheinend soll es nicht sein, dass ich sie finde“, sagt sie. „Aber ich möchte, dass alles aufgeklärt wird.“
Hinweise an die Polizei unter: 01/31310-33800.