"Die wachsende Islamophobie ist eines der größten Probleme unserer Zeit"
Von Bernhard Ichner
KURIER: Herr Köse, Sie stehen der UETD nahe. Zuletzt fiel deren Präsident, Abdurrahman Karayazili, wiederholt durch sein aggressives Auftreten gegenüber österreichischen Medien auf – etwa durch seinen unbeherrschten Abgang in der ZiB24. Schadet die UETD den Türken in Österreich so nicht?
Fatih Köse: Zuerst muss man wissen, dass der Verein zuletzt komplett umgekrempelt wurde. Der gesamte Vorstand wurde mit jungen türkischstämmigen Österreichern besetzt. Das war definitiv der richtige Schritt. Leider ist der junge und noch unerfahrene Präsident in den Medien etwas zu aggressiv aufgetreten. Aber er spürt die permanenten Vorbehalte gegenüber Türken und sieht die negative Berichterstattung über Erdogan. Dass er sich da oft provoziert fühlt und die Contenance verliert, ist nachvollziehbar. Ich bin mir aber sicher, dass er sich seiner Fehler bewusst ist, und dass er mit der Zeit dazulernen wird.
Ist die UETD ein gutes Sprachrohr für die Austro-Türken?
Ich finde die UETD sollte alle Türken vertreten und diplomatischer gegenüber Andersdenkenden agieren. Ich würde mir wünschen, dass sich die UETD nicht nur über die AKP definiert und sich mehr in der politischen Mitte positioniert – weil nicht alle Türken wählen Erdogan.
Eine ungewöhnliche Aussage für einen Erdogan-Fan.
Ich bin AKP-Sympathisant, aber ich bin kein Fanatiker. Ich finde den Großteil der AKP-Politik gut, aber es gibt natürlich auch Kritikpunkte. Rund um die Korruptionsvorwürfe gibt es noch viel aufzuarbeiten. Jeder ist vor dem Gesetz gleich – auch Erdogan.
Sie kritisieren die österreichischen Medien. Was stört Sie an der Berichterstattung?
Prinzipiell: Dass die Boulevardmedien tendenziell gegen Muslime berichten. Immer, wenn es um Muslime geht, wird die ganze Community in einen Topf geworfen. Am Beispiel der Präsidentenwahl: Da wurde Erdogan als "Sultan" und "Autokrat" verunglimpft – obwohl ihn das Volk in einer direkten, freien Wahl mehrheitlich zum Präsidenten gewählt hat. Das sollten die Medien akzeptieren.
Zuletzt organisierte die UETD in Wien eine Anti-Israel-Demo und handelte sich damit Antisemitismus-Vorwürfe ein. Zu Recht?
Nein. Die UETD hat von vornherein klar gemacht, dass antisemitische Aktionen unerwünscht sind. Leider gibt es immer wieder Störenfriede. Gerade im Internet, wo sich die Leute unter dem Deckmantel der Anonymität mehr zu sagen trauen als im Alltag. Antisemitismus ist – genau wie jede Art von Rassismus oder die EU-weit explodierende Islamophobie – nicht zu tolerieren. Wir müssen aber zwischen der Kritik an einem Land und Antisemitismus klar unterscheiden. Die Mehrheit der Muslime protestiert gegen die unverhältnismäßige Gewaltanwendung Israels.
Vor Kurzem wurde die Baustelle einer Islamschule mit einem Schweinekopf verunstaltet. Aus der türkischen Gemeinde war keine nennenswerte Reaktion zu vernehmen.
Das hat mich sehr enttäuscht. Da hätte ein Aufschrei durch die türkischen Vereine, aber auch durch die österreichische Bundesregierung gehen müssen. Denn solche Signale sollte man ernst nehmen. Die wachsende Islamophobie ist eines der größten Probleme unserer Zeit.
Wie sollte die Bundesregierung Ihrer Meinung nach auf derartige Provokationen reagieren?
Schon in der Volksschule sollten Projekte und Impulse für ein "gemeinsames Miteinander" zu finden sein. Zudem gilt es Diskriminierungen muslimischer Frauen - besonders am Arbeitsplatz - zu bekämpfen. Der Branddanschlag auf die Moschee in Berlin, die Schweinekopf-Attacke in Wien, unzählige Hasspostings gegen Moslems in Sozialen Netzwerken - das sind alles starke Zeichen dafür, dass es eine offene Islamfeindlichkeit in Europa gibt. Wir dürfen Moslems nicht wie "Menschen zweiter Klasse" behandeln, sonst verlieren wir das Vertrauen dieser Menschen in die österreichischen Institutionen. Darum müssen die verantwortlichen Stellen - Polizei, Verfassungsschutz, Integrationsbüro - verstärkt gegen Islamfeindlichkeit vorgehen. Auch länderübergreifende Projekte wären wünschenswert.
Wie beurteilen Sie das Selbstbild der Austro-Türken?
Wir haben noch viel nachzuholen. Wir dürfen die Schuld nicht immer bei den alteingesessenen Österreichern suchen und müssen auch vor unserer eigenen Tür kehren. An der türkischen Innenpolitik zeigen wir uns interessiert, aber wenn es um Weltpolitik – etwa um die Ukraine – oder um österreichische Themen geht, sind wir stumm. Das ist der falsche Weg. Wir müssen im Land mehr aktiv mitgestalten. Dafür müssen viele Türkischstämmige endlich anfangen, sich als Österreicher zu fühlen. Und die türkischen Vereine müssen endlich Projekte für ein Miteinander starten, anstatt bloß von Fototermin zu Fototermin zu hetzen. Wir müssen dieses Akzeptanzproblem gegenüber Muslimen endlich angehen. Denn es ist offen ersichtlich, dass es in unserer Gesellschaft ein Akzeptanzproblem gegenüber Moslems gibt. Das wird in den Medien leider nicht genug thematisiert. Wenn gegenüber Moslems genügend Akzeptanz an den Tag gelegt würde, wäre auch der "Integration" geholfen. Wir Österreicher haben eine funktionierende Demokratie und ein sehr liberales Land - nur sollten diese Eigenschaften auch für muslimische Mitbürger gelten. Ein fairer Umgang miteinander sollte selbstverständlich sein. Wir müssen endlich aufeinander zugehen - denn unsere stärkste Waffe heißt: Dialog!
Zur Person
Fatih Köse (28) ist einer von vier Brüdern und wuchs in Wien auf. Er ist Schauspieler am Forum-Theater und spielt in erster Linien in Stücken, die sich kritisch mit Antisemitismus auseinander setzen. Vor Schülern hält er Vorträge zu diesem Thema. Voriges Jahr organisierte der Politaktivist gemeinsam mit dem jetzigen UETD-Vorstand die große Pro-Erdogan-Demo in Favoriten. Seit Kurzem arbeitet er auch als freier Journalist für das Magazin www.haberjournal.at/de.
UETD
Die „Union Europäisch-Türkischer Demokraten“ versteht sich als Sprachrohr der Auslandstürken. De facto ist sie aber vor allem verlängerter Arm der AKP. Im Juni besuchte der künftige türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan auf Einladung der UETD Österreich. Zuletzt organisierte der Verein eine große Anti-Israel-Demo in Wien.
Wie auf Knopfdruck springt Kenan auf den Nahost-Konflikt an. "Scheiß Israel", schimpft er. Auf eine erste Widerrede zückt er sein Handy und zeigt ein YouTube-Video. "Warte, warte, jetzt." Ein Vater und dessen Sohn, beides offenbar Palästinenser, sterben im Kugelhagel. "Das ist nicht normal. Scheiß Juden", schießt es aus dem 17-Jährigen heraus.
Die Sozialarbeiter Fabian Reicher und Martin Dworak vom Verein Back Bones versuchen, sein Bild zu korrigieren. Mit Fragen. Vielen Fragen. "Was hat das mit den Juden zu tun?"
Beide Streetworker überlegten lange, ob sie ein Redakteur in den Park in Wien-Brigittenau begleiten darf. Es geht um die Beziehung, die sie zu den Jugendlichen aufgebaut haben. Sie willigten ein. Kein Foto, Namen ändern.
Viele Ressentiments
Für den Integrationsexperten Kenan Cengiz gibt es auf so große Fragen keine Antwort: "Es gibt liberale bis religiöse Milieus." "Die eine" türkische oder muslimische Jugend, die gibt es nicht. Ebenso wenig wie Studien dazu. Antisemitismus ist in der Bevölkerung gut erforscht – und laut den Werten der Anti-Defamation-League weit verbreitet. 42 Prozent der Österreicher glauben etwa, dass Juden zu viel Macht auf den Finanzmärkten haben.
Zurück im Park in der Brigittenau. Kenan, 17, Lehrling, hört zu, nickt. "Eh nicht alle", sagt er dann. Für die Sozialarbeiter Reicher und Dworak ist das schon ein kleiner Erfolg. Sie kennen ihn seit drei Jahren, suchten mit ihm eine Lehrstelle, erledigten gemeinsam Behördenwege. Reicher sagt: "Er ist noch ein Jugendlicher, er provoziert, experimentiert, plappert viel nach, unhinterfragt." Der Nahost-Konflikt schwappt in ihre Arbeit über. Auch die Syrien-Krise. "Wir sagen, was geht, was nicht", erzählt Dworak. Es sei wichtig, Grenzen aufzuzeigen.
Reicher und Dworak tun das. Sie begegnen Kenan und seinen Freunden auf Augenhöhe. Sie gratulieren einem Burschen zum Zuckerfest. Den Jugendlichen, erzählt Dworak, bringe das Wertschätzung, den Sozialarbeitern einen Zugang zu ihrer Welt. Sie ist wie bei Kenan auch virtuell. "Sie sehen die Bilder, die machen etwas mit ihnen. Wir versuchen, die Bilder zu korrigieren." Oft mangelt es bei den Jugendlichen in ihren Parks an Bildung, das Elternhaus ist im Falle Kenans konservativ, es mangelt auch an Geld. Dworak sagt: "Sie spüren natürlich, dass sie gegenüber anderen benachteiligt sind."
Thomas Schmidinger beantwortet derzeit in heimischen Medien die meisten Fragen zu Jugendlichen und Antisemitismus (siehe unten). Oft ist "reale Benachteiligung" einer der Hintergründe. Der Schuldige dafür ist schwer zu finden – außer, man folgt Weltverschwörungstheorien. Es lohne sich, mit Jugendlichen zu arbeiten. Im Schulunterricht bestehe Handlungsbedarf. Geschichte und politische Bildung, sagt Schmidinger, komme nur dann bei Schülern mit Migrationshintergrund an, wenn er auch ihre Herkunft miteinbeziehe.
Ein Blick in die Online-Foren und auf die Werke heimischer Kommentatoren. Das Pendel schlägt ganz weit nach rechts aus: "Der Antisemitismus", sagt Schmidinger, "wird auch gegen Muslime eingesetzt." Pädagogikprofessor Aslan ergänzt: "Aufgrund der muslimischen Präsenz können sich die europäischen Antisemiten nicht abputzen." Das solle aber niemanden dazu verleiten, die Gefahr des Antisemitismus kleinzureden.
Im Vereinssitz von Back Bone. Die Jahresbilanz 2013 ist in einem Heft zusammengefasst, Chefin Manuela Synek erzählt eine Geschichte dazu. Es geht um eine Reise nach Israel, um Burschen, die nicht mitfahren durften, und zwei, die mit Vollbart am Flughafen erschienen. "Die beiden hatten Angst. Sie glaubten, sie werden dort erschossen." Stattdessen wurden sie von orthodoxen Juden angesprochen, ob sie praktizieren wollen. Und als sie zum Hotel fuhren, sahen sie im Umkreis von dreihundert Metern drei Moscheen. Einer der Burschen schrieb über die Begegnungen mit jungen Israelis im Heft: Es "waren die ersten Juden, die ich kennengelernt habe ... Alle Leute hier werde ich vermissen. Es ist nicht so, wie ich gedacht habe".
KURIER: Ist der Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen ein Randphänomen oder ein wachsendes Problem?
Thomas Schmidinger: Es eskaliert immer dann, wenn im Nahen Osten der Konflikt eskaliert. Das Problem gibt es schon länger, aber es wird tendenziell schlimmer, weil neosalafistische Gruppen stärker werden, die einen aggressiveren Antisemitismus vertreten.
Hat man das zu lange ignoriert?
Man hat sicher zu lange weggeschaut. Das hat damit zu tun, dass man politische Positionen dieser Gruppen nicht ernst genommen hat. Jetzt bin ich aber skeptisch, wie man mit dem Thema umgeht: Es wird sehr stark gegen Muslime an sich benutzt. Der Antisemitismus wird momentan als Argument für antimuslimische Ressentiments verwendet. Zum Beispiel von der FPÖ, die so tut, als gäbe es keinen Antisemitismus in der Mehrheitsgesellschaft.
Welche Rolle spielen das Internet und soziale Netzwerke?
Eine sehr wichtige für die Verbreitung von antisemitischen Bildern. Es werden sehr rasch Fotomontagen und Bilder geteilt, die antisemitische Propaganda sind. Man kann sich einfach in eine parallele Medienwelt begeben.
Jugendliche stecken oft in einer Krise. Kann man da von Antisemitismus reden?
Es kommt darauf an, wie verfestigt der Antisemitismus ist. Ein Antisemit ist jemand, für den der Antisemitismus zu einem Welterklärungsmuster wird, wenn ich mehr oder weniger alle unerfreulichen Phänomene, mit denen ich zu tun hab, auf Juden und Jüdinnen zurückführe. Jemand der eine antisemitische Äußerung von sich gibt, ist nicht notwendigerweise ein Antisemit, hat sie vielleicht irgendwo aufgeschnappt. Mit denen, die noch keine ideologisierten Antisemiten sind, würde es sich natürlich lohnen, zu arbeiten. Das ist nicht an einem Nachmittag zu machen.
Was steckt hinter antisemitischen Haltungen?
Man muss dabei die Frage stellen: Welches Bedürfnis erfüllt der Antisemitismus? Nämlich sehr oft reale Benachteiligungen, die man sich nicht erklären kann. Der moderne Antisemitismus ist parallel zum Kapitalismus entstanden. Der Kapitalismus ist im Gegensatz zum Feudalismus ein warenvermitteltes Herrschaftssystem. Es gibt Herrschaft, es ist aber unklar, wer der Herrscher ist. Den Feudalherren kann man vielleicht noch erschlagen. Im Kapitalismus ist das viel komplexer. Die nicht verstandenen Leiden am Kapitalismus werden dann mit antisemitischen Verschwörungstheorien erklärt.
Gibt es Defizite im Schulunterricht?
In den Schulen gibt es dringenden Handlungsbedarf. Selbst wenn es engagierten politischen Unterricht gibt, vermittelt er Jungen eine Geschichte, die die Situation in den Herkunftsländern nicht integriert. Deshalb ist er nicht Teil ihrer Geschichte und ihres Themas. Man müsste das in Richtung einer Menschenrechtserziehung ausbauen. Wir müssen verstehen, dass wir in Österreich in einer postmigrantischen Gesellschaft leben. In vielen Klassen haben die Kinder eine andere Herkunft. Wenn ich als Lehrer erzähle, was "wir" in der Vergangenheit getan haben, dann nützt solche Art der politischen Bildung wahrscheinlich wenig.
Abdurrahman Karayazili redete sich in Rage. Der Chef der UETD, der Europäisch Türkischen Demokraten, fiel der ORF-Moderatorin Lisa Gadenstätter und seinem Visavis ins Wort. Das Thema war ein emotionales – der Nahost-Konflikt. Nach 9.35 Minuten verließ Karayazili wütend das ORF-Studio.
Die UETD, der Karayazili vorsteht, ist eine Lobbyorganisation der türkischen Regierungspartei AKP. Heuer mobilisierte sie Tausende Türken zum Auftritt des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan in Wien. Für Karayazili ein Erfolg, die ihm viel Prominenz bescherte. Diese hat er mit seinem ORF-Auftritt noch gesteigert, allerdings nicht im positivem Sinne. Vor laufender Kamera weigerte er sich, sich von jüngsten Aussagen Erdogans zu distanzieren, der Israel mit Hitler-Deutschland gleichgesetzt hatte. Der junge Türke polterte, ließ niemanden zu Wort kommen, fuchtelte mit Fotos herum.
Dem KURIER wollte er nur ein Interview geben, wenn der Bericht "loyal" verfasst und es vorab eine Zusage für genügend Platz gäbe. Das Interview kam deshalb nicht zustande.
Es blieb nicht bei dem wütenden Abgang. Nach Karayazilis Auftritt setzte in sozialen Netzwerken und auf der Facebook-Seite der ORF-Moderatorin Lisa Gadenstätter ein Shitstorm ein, der seinen Namen verdient hatte. Sogar eine Morddrohung war darunter. Die türkische Kulturgemeinde forderte eine Distanzierung und das Ende der Hetze. Karayazili ging auf Twitter auf Distanz dazu. Im Netz solidarisierten sich viele mit der Moderatorin. Auf Twitter riefen sie zu einem Blumenregen für sie auf.