Chronik/Österreich

Anfang Oktober waren über 550 Medikamente nicht erhältlich

In Österreich sind derzeit Hunderte Arzneimittel nicht verfügbar. "Ich habe mir die Daten von einem der drei großen Pharmagroßhändler angesehen. Am 30. August waren 908 Arzneimittel nicht lieferbar. Am 3. Oktober waren es noch immer 807. Davon waren 754 rezeptpflichtige Arzneimittel. Von den 908 Ende August nicht verfügbaren Arzneimitteln waren Anfang Oktober 556 weiterhin nicht verfügbar. Das heißt, dass ist nicht kurzfristig, das geht über Monate", sagte Apothekerkammer-Vizepräsident Christian Wurstbauer.

In der Öffentlichkeit ist immer wieder die Rede davon, dass es sich bei den fehlenden Arzneimitteln häufig um hoch spezielle, zum Teil kompliziert zu produzierende High-Tech-Medikamente handle. Wurstbauer hat eine andere Situation erhoben: "Dies betrifft zumeist Massenarzneimittel. Und das löst bei den Patienten Verunsicherung aus. Bei ihm entsteht der Eindruck, dass der Arzt zu dumm ist, um ein erhältliches Arzneimittel zu verschreiben oder der Apotheker unfähig, es zu besorgen."

Alle Inhalte anzeigen

Die Zustände sind wohl erstaunlich für Österreich als eines der reichsten Länder der Erde und mit einem hoch entwickelten Gesundheitswesen. Ein Blick auf die buchstäblich "elendslange" Liste der medikamentösen Unerhältlichkeit in Österreich zeigt: Es handelt sich zum allergrößten Teil um Produkte aus synthetischer Produktion, also nicht um High-Biotech-Arzneimittel, die nur an einer oder zwei Standorten hergestellt werden: Wirksame Uralt-Blutdruckmedikamente (z.B. ein Betablocker), ebenfalls lang bewährte Cholesterinsenker, Cortisonsalben, Schmerzmittel etc.

Die Pharmaindustrie hat in diesem Zusammenhang auf den Export von für Österreich gedachten Arzneimitteln in Länder mit höheren Preisen durch Apotheker mit Großhandelskonzession bzw. Pharmagroßhändler verwiesen. Der neue Präsident des Verbandes der österreichischen Pharmaindustrie (Pharmig), Philipp von Lattorff, sprach gegenüber der APA von "Körbergeld", das sich Apotheker hier zum Nachteil der Arzneimittelversorgung in Österreich sicherten.

"Die Situation ist für alle Beteiligten, für die Industrie, den Großhandel, Apotheker, Ärzte und Patienten unangenehm", betonte Apothekerkammerpräsidentin Ulrike Mursch-Edlmayr. Es sei wohl kein Wunder, dass die einzelnen Marktteilnehmer versuchten, sich gegenseitig den sprichwörtlichen "Schwarzen Peter" zuzuschieben.

"In der Liste der nicht lieferbaren Medikamente ist nichts dabei, was aus Preisgründen exportiert würde", sagte Wurstbauer und widersprach damit der Einschätzung der Pharmaindustrie. Der Verkauf von Arzneimitteln aus Österreich nach Deutschland oder in andere EU-Staaten mit höheren Preisen zahle sich eben nur bei entsprechenden Preisdifferenzen aus. Das zeige die Aufstellung aber nicht. Und übrigens: "Der Verkauf von Arzneimitteln in andere EU-Staaten ist kein "Export". Das wäre nur der Verkauf in Drittländer. Und auf dem Binnenmarkt ist das normal, nichts Kriminelles oder Mafiöses."

Vor allem die entstandene Unruhe unter den Patienten, die sich rundum beschwert haben, ließ Politik und Verwaltung aktiv werden. "Bei der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES; Anm.) wurden drei Arbeitskreise zur Arzneimittel-Versorgungssicherheit eingerichtet. Einer befasst sich mit dem Brexit, auf den Österreich gut vorbereitet ist, der zweite mit den Lieferengpässen (Großhandel, Apotheker, Kliniken) und der dritte mit der Standardisierung von Rückrufaktionen im Fall, dass Probleme in der Produktion von Arzneimitteln auftreten", schilderte Ulrike Mursch-Edlmayr die Aktivitäten.

Diskutiert wird bei den Lieferengpässen auch die sogenannte Kontingentierung von Arzneimitteln durch die Pharmaindustrie. Hier gibt es aber zwei Kategorien. Wurstbauer: "Da existiert der Direktvertrieb von Arzneimitteln über Logistikunternehmen an die Apotheken ("Direct to Pharmac"y; Anm.). Es geht um die um die stückweise Anlieferung von Arzneimitteln, meist hochpreisige Medikamente. Da übt die Pharmaindustrie die Kontrolle aus."

Und dann gibt es noch rund 160 bis 170 Arzneimittel, die ebenfalls kontingentiert, aber durch einen eventuellen Export in ihrer Erhältlichkeit in Österreich "gefährdet" sind. "Sie sind verfügbar. Es kann aber sein, dass der Patient darauf eventuell ein bis zwei Tage warten muss", sagte Apothekerkammer-Vizepräsident Christian Wurstbauer.

Mit Arzneimitteln en gros handeln dürfen nur die Inhaber von entsprechenden Konzessionen. In Österreich haben neben den großen Fünf der Pharmagroßhändler (z.B. Phoenix, Herba, Kwizda etc.) etwa 50 Apotheker ebenfalls Großhandelskonzessionen. Hier gäbe es Einflussmöglichkeiten, betonte Apothekerkammerpräsidentin Ulrike Mursch-Edlmayr: "Die AGES als Aufsichtsbehörde könnte jederzeit bei den einzelnen Großhändlern Kontrollen machen und erheben, wohin Arzneimittel exportiert worden sind." Bei den direkt an die Apotheken stückweise ausgelieferten High-Tech-Medikamenten, vor allem aus der Biotechnologie-Produktion, hätte er aber noch nie Engpässe registriert, fügte Wurstbauer hinzu. Überhaupt seien 90 Prozent der akut auftretenden Probleme durch Zusammenarbeit von verschreibendem Arzt und Apotheke lösbar.

Exportverbot

Der neue Pharmig-Präsident Philipp Lattorff hat in seiner ersten Stellungnahme gleich ein mögliches Gesetz gegen den Export von in ihrer Verfügbarkeit potenziell gefährdeten Arzneimitteln ins Spiel gebracht. Bei der Apothekerkammer hält man das für undurchführbar. "Da geht es um Hunderte Arzneimittel. Die Liste ändert sich ständig", sagte der Kammer-Vizepräsident. Abgesehen davon seien Experten wegen der EU-Binnenmarktregeln skeptisch bezüglich der Umsetzbarkeit eines solchen Plans. Man mache sich gegenüber Ländern wie Deutschland eher lächerlich, wenn man gesetzliche Exportverbote für Medikamente per Gesetz vorsehe.

Die Standesvertreter der österreichischen Apothekerschaft würden viel eher ein umfassendes System mit mehreren Bestandteilen und Übernahme der Verantwortung durch jeden Marktteilnehmer vorschlagen:

- Verpflichtendes Meldesystem für die Pharmaindustrie bei auftauchenden Lieferproblemen (Vertriebseinschränkungsregister).

- Kommunikationsnetz zwischen Großhandel, Ärzten und Apothekern. Ulrike Mursch-Edlmayr: "Das kann auch ein Ampelsystem in der Software von Ärzten sein, wodurch sie informiert werden, was eventuell nicht erhältlich sein könnte."

- Im Ernstfall sollen Apotheker, wenn der verschreibende Arzt nicht erreichbar ist, das verschriebene Medikament durch ein gleichwertiges ersetzen dürfen. Wurstbauer: "Wir wünschen uns definitiv keine Aut-idem-Regelung (generelle Austauschbarkeit vergleichbarer Arzneimittel, eventuell kombiniert mit bloßer Wirkstoffverschreibung; Anm.)."

- Gesundheitspolitik und Krankenkassen sollten sich das Preisniveau in Österreich bei den Arzneimitteln anschauen, um keine zu großen Preisunterschiede zwischen den vergleichbaren EU-Mitgliedsstaaten entstehen zu lassen.

- Fazit, so die Standesvertreter der Apotheker: "Wenn man Versorgungssicherheit, höchste Qualität und Beratung will, muss man Gesundheitsdienstleister so bezahlen, dass es fair ist."

Abseits der Brexit-Vorkehrungen geht es Apothekerkammerpräsidentin Ulrike Mursch-Edlmayr darum, bei einer sich realistisch abzeichnenden künftigen Regierungskoalition rechtzeitig auf die Anliegen ihres Standes hinzuweisen. "Wir brauchen ein Bekenntnis der Politik, die Arzneimittelversorgung durch die Apotheken flächendeckend in der bestehenden Form zu sichern."

Die Apotheken sollten auch als Versorgungsstufe in alle Gesundheitsplanungen eingeschlossen werden. Versorgung der Landbevölkerung, Nachtdienste, Medikamentenmanagement und Beratung und Begleitung in Selbstmedikation müssten als Apothekenleistung auch abgegolten werden.