Wochenlanges Spitals-Martyrium für Kinder: Prozess gegen Eltern
Von Patrick Wammerl
Die Psychiatrie hat einen Fachbegriff dafür. Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom ist eine Form der Kindesmisshandlung, bei der in der Regel die Mutter bei ihrem Kind Anzeichen einer Krankheit vortäuscht und es von einem Arzt zum anderen schleppt.
Ein solcher Fall soll im Bezirk Mödling derart schlimme Ausmaße angenommen haben, dass die Fürsorge einem Ehepaar die beiden Kinder (drei und acht Jahre) abnahm. Weil vor allem die achtjährige Tochter an die 100 Spitalsbesuche und Aufenthalte, Dutzende Eingriffe und schwerwiegende Untersuchungen unter Vollnarkose und andere physische Leiden dadurch erlitten haben soll, müssen sich seit Dienstag die Eltern wegen fortgesetzter Gewaltausübung und Betrugs am Landesgericht Wiener Neustadt verantworten. Die 33-jährige Mutter ist laut ihrer Anwältin nach einer Traumageburt samt Notkaiserschnitt zwar mit der Situation überfordert gewesen und habe Fehler gemacht. Sie habe Dinge fehlinterpretiert und das Mädchen nach jedem kleinsten Sturz ins Spital gebracht, aber im Sinne der Anklage bekennen sich die Eltern nicht schuldig.
Flasche Angaben zum Gesundheitszustand
Laut Staatsanwältin hat die Mutter ihre Tochter sechs Jahre lang für Symptome und Krankheiten behandeln lassen, die das kleine Kind gar nicht hatte. Die 33-Jährige soll teils falsche Angaben zum Gesundheitszustand des Babys gemacht und damit die schweren Eingriffe überhaupt erst ausgelöst haben. Nach angeblichen Krampfanfällen und ständigem Erbrechen wurden bei dem Mädchen unter Vollnarkose ein Schädel-MRT, Röntgenuntersuchungen sowie Magen- und Darmspiegelungen vorgenommen. Wochenlange stationäre Spitalsaufenthalte mit Zwangsernährung waren die Folge. Die Befunde waren allerdings völlig unauffällig.
Angaben in der Schule schockieren
Nach der Schuleinschreibung des Kindes wurden die Behörden in der Angelegenheit stutzig. Die Richterin zitierte am Dienstag im Prozess aus den Unterlagen und konnte die Angaben selbst kaum glauben. Demnach soll die Frau in der Schule angegeben haben, dass ihre gesunde Tochter mit nur einer Niere zur Welt kam, eine Sonde in der Hüfte den Stoffwechsel regelt, sie aggressive Verhaltensweisen an den Tag legt, schwere Allergien und autistische Züge vorweist und laufend erbricht. Auch der 2018 zur Welt gekommene Bruder soll nur über 10 Prozent Herzleistung verfügen und auf eine rettende OP warten. Was in keiner Weise der Realität entspricht. „Wollten sie, dass andere ihre Kinder als krank ansehen?“, wollte die Richterin wissen. Sie habe das Ganze damals vielleicht „falsch gesehen oder interpretiert“, meinte die Angeklagte.
Mit ähnlich abstrusen Angaben soll es der Frau sogar gelungen sein, ihre Tochter auf Pflegestufe 4 und den Sohn auf 1 einstufen zu lassen. So kassierte die Familie über 23.000 Euro Pflegegeld. Heute sind die Kinder bei Pflegeeltern, Auffälligkeiten gäbe es keine, hieß es im Prozess. Ein Urteil soll Ende der Woche fallen.