„20 Morde im Jahr werden übersehen“

„20 Morde im Jahr werden übersehen“
Gerichtsmediziner Reiter über die Aufklärung von Vergiftungen und was ihn daran reizt.

Vergangenen Donnerstag wurde in Krems die Polin Bogumila Wojtas nicht rechtskräftig zu lebenslanger Haft verurteilt. Sie hatte zwei Pensionisten mit Arsen vergiftet, um an ihr Vermögen zu kommen. Gerichtsmediziner Christian Reiter konnte nach Exhumierung der Leichen eine hohe Konzentration des Giftes aus Nägeln und Haaren der Toten herausfiltern. Er ist überzeugt, dass hinter den Morden Ehemann und Sohn der Angeklagten stecken. Der KURIER sprach mit dem Experten über afrikanische Pfeilgifte und unentdeckte Morde.

KURIER: Ist das Urteil für Sie befriedigend?
Christian Reiter:
Man muss sich als Sachverständiger von der Verschuldensfrage distanzieren. Es ist nur wichtig, wie man das Gutachten präsentiert, ob die Richter damit etwas anfangen können. Man merkt an den Gesichtern, ob das in den Gehirnen ankommt. Als Privatmann hat man freilich eine Meinung, und für mich hat sich das Bild ergeben, dass alle drei daran beteiligt waren. Die Angeklagte wurde von Ehemann und Sohn als Werkzeug missbraucht, sie war Handlangerin für die Bedürfnisse der Familie. Deshalb ist das Urteil keine Befriedigung.

Warum war das nicht nachzuweisen?
Ich habe das der Staatsanwaltschaft auch mitgeteilt, dass die Angeklagte das nicht allein gemacht hat. Aber es ist nicht gelungen, da einen Konnex herzustellen. Die Polizei wusste auch nicht, was sie bei der Hausdurchsuchung in der Wohnung der Familie Wojtas in Polen suchen sollte. Vielleicht lag ja dort irgendwo ein silberglänzendes Metall.

Weshalb wurden die Vergiftungen in den Krankenhäusern, in welche die Opfer eingeliefert wurden, nicht erkannt?
Wenn jemand Gelbsucht hat, denkt der heilende Arzt an eine Hepatitis oder an Gallensteine. Es kann aber auch eine Phosphorvergiftung sein. Als die Zündholzköpfchen noch aus Phosphor waren, haben Stubenmädeln diese Köpfchen im Reindl aufgewärmt und als Abtreibungsmittel oder für Selbstmord verwendet. Hatte ein Gerichtsmediziner 1880 ein junges Mädel mit Gelbsucht am Seziertisch, dachte er zuerst an Phosphor. Heute schaut er sich die Gallenwege an. Und mit der Knochenmarksschädigung ist es ähnlich, da kommt Sepsis als Ursache häufiger vor als eine Arsen-Vergiftung. Wenn man als Gerichtsmediziner dem Staatsanwalt mit exotischen Analysen kommt, heißt es, der will Gebühren schinden.

Wie viele Morde bleiben auf diese Weise unentdeckt?
20 Fälle im Jahr werden in Österreich übersehen. Ein Pflegefall mit Polster aufs Gesicht, ein Erhängter, der als Selbstmord erklärt wird. Oder ein alter Mann mit Genickbruch im Stiegenhaus, der kann gestolpert oder gestoßen worden sein. Früher wurden pro Jahr 1500 Leichen in Wien seziert, da konnte man bei 70 Fällen Fremdverschulden nicht ausschließen, zehn kamen vor Gericht. Heute schaut nur noch der Pathologe im Spital darauf, und es gibt fast keine Anzeigen.

Morden Männer anders als Frauen?
Männer sind impulsiver, weniger überlegt. Obwohl: In Geheimdienstkreisen sterben Dissidenten schon oft an komischen Krankheiten. Man kann jemandem Plutonium ins Essen mischen, und die Ärzte denken an eine natürliche Knochenmarkserkrankung. Ich denke mich gern ins Gehirn einer Frau: Wie rächt sie sich? Oder warum pflegt die Wojtas die Männer, obwohl sie weiß, dass die vergiftet sind? Es gibt das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom: Eine Mutter vergiftet ihre Kinder und pflegt sie aufopfernd, um als gute Mutter gelobt zu werden.

Was reizt Sie an der Analyse von Giften?
Das hat mich schon als Kind fasziniert, schon das Wort Gift jagt einem Schauder über den Rücken. Ich habe daheim zwei Laufmeter mit Büchern über Pflanzen und Vergiftungen. Schüsse habe ich in allen Versionen schon gesehen, erwürgt und erstochen und erdrosselt, kenn’ ich. Man kann nicht jedes Jahr mit einem tollen Giftmord rechnen, aber so alle zehn Jahre. Ich hatte den Osberger (Mordversuch mit einer Praline), die Elfriede Blauensteiner (Serienmörderin mit blutzuckersenkenden Medikamenten) und die Bogumila Wojtas. Aber alle Gifte kann man nie im Griff haben. Da gibt es afrikanische Pfeilgifte aus Schlingpflanzen, davor hab’ ich Angst. Gott möge abhüten, dass ein Nigerianer bei uns einen Giftmord begeht. Da haben wir ein Problem, daran denkt kein Chemiker.

Die Nachlese des Arsen-Prozesses lesen Sie unter kurier.at/chronik

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