Wissen/Wissenschaft

Nobelpreis für Chemie geht an Entwicklerinnen der Genschere

Die Schwedische Akademie der Wissenschaften hat entschieden: Der Nobelpreis für Chemie 2020 geht an die beiden Biochemikerinnen Emmanuelle Charpentier (Frankreich) und Jennifer Doudna (USA). Wie die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften heute, Mittwoch, in Stockholm bekannt gab, erhalten sie die heuer mit zehn Millionen Schwedischen Kronen (rund 950.000 Euro) dotierte Auszeichnung "für die Entwicklung einer Methode zur Bearbeitung des Genoms"  konkret die Genschere CRISPR/Cas9.

"Schon kurze Zeit nach der Publikation von CRISPR/Cas9 im Jahr 2012 wurde mir gegenüber mehrmals erwähnt, dass ich eines Tages für diese Entdeckung den Nobelpreis verliehen bekommen würde. Als ich heute Morgen angerufen wurde, war ich dann doch sehr emotional, weil es spannenderweise erst passieren muss, damit man es glaubt. Es fühlt sich nicht real an – aber ganz offensichtlich ist es jetzt real", sagte Charpentier in einer ersten Reaktion.

Beim diesjährigen Nobelpreis spielt indirekt auch Wien eine Rolle: Die heutige Direktorin am Berliner Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie war von 2002 bis 2009 an den Max F. Perutz Laboratories der Universität Wien und der MedUni Wien tätig, wo sie einen relevanten Teil der Entwicklungsarbeit für die Genschere durchführte.

Die Forscherin meinte in einem früheren Interview einmal, sie habe einen "Heureka-Moment" in Wien gehabt, wie die Genschere funktioniert. Unter anderem mangels Karriereperspektiven in Wien wechselte sie aber 2009 an die Universität Umea (Schweden). 2012 veröffentlichte sie mit Doudna, die an der University of California in Berkeley (USA) arbeitet, die Anleitung für den Schneidemechanismus im Fachjournal Science.

Vorbild für junge Forscherinnen

Seit 1901 wurde der Nobelpreis für wissenschaftliche Errungenschaften im Feld der Chemie an 183 verschiedene Forscher vergeben. Der britische Biochemiker Frederick Sanger erhielt ihn gleich zweimal. Unter den Preisträgern waren bislang nur fünf Frauen, etwa Marie Curie 1911 für die Entdeckung der radioaktiven Elemente Polonium und Radium.

Charpentier dazu: "Ich hoffe, dass diese Auszeichnung für mich und Jennifer Doudna eine starke Botschaft für junge Frauen darstellen wird. Vor allem für junge Forscherinnen, die den Weg der Wissenschaft verfolgen wollen. Ich hoffe, dass wir ihnen zeigen können, dass man auch als Frau Preise gewinnen kann. Und noch wichtiger: Dass Frauen in der Wissenschaft Einfluss mit den Forschungen haben können, die sie verfolgen."

Als "Werkzeug, um den Code des Lebens neu zu schreiben" beschrieb das Nobelkomitee die von Charpentier und Doudna entwickelte Genschere CRISPR/Cas9. Mit ihr könnten Forscher die DNA von Tieren, Pflanzen und Mikroorganismen mit höchster Präzision verändern. "Diese Technologie hat einen revolutionären Einfluss auf die Biowissenschaften gehabt, sie trägt zu neuen Krebstherapien bei und könnte den Traum von der Heilung von Erbkrankheiten wahr werden lassen."

"In diesem genetischen Werkzeug steckt eine enorme Kraft, die uns alle betrifft. Es hat nicht nur die Grundlagenwissenschaft revolutioniert, sondern hat auch zu innovativen Nutzpflanzen geführt und wird zu bahnbrechenden neuen medizinischen Behandlungen führen", erklärte Claes Gustafsson, Vorsitzender des Nobelkomitees für Chemie.

Wunder-Schere wird erst seit kurzem benutzt

Die Natur war das Vorbild: Die Gen-Schere Crispr/Cas9, kurz Crispr (gesprochen: Krisper), arbeitet wie ein Abwehrmechanismus von Bakterien. Schon in den 1980er-Jahren entdeckten Forscher die ungewöhnlichen, sich wiederholenden Sequenzen im Erbgut der Kleinstlebewesen. Sie wussten damit aber zunächst nichts anzufangen.

Erst viel später entdeckte man: Die Bakterien schützen sich vor eindringenden Viren, indem sie Schnipsel aus deren Erbgut in ihre eigene DNA einbauen. So können sie den Eindringling bei einer erneuten Attacke wiedererkennen und gezielt ansteuern. Das passiert, indem die eingebauten DNA-Sequenzen aktiviert und in sogenannte RNA-Erbgutmoleküle umgeschrieben werden.

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Der zweite – und schneidende – Teil der Gen-Schere ist das Enzym Cas9. Es zerschnipselt an der angesteuerten Stelle das Erbgut, ursprünglich das des Eindringlings.

Zwei Forscherinnen, die französische Mikrobiologin Emmanuelle Charpentier und die US-Biochemikerin Jennifer Doudna, begannen dann, die molekulare Such- und Schneide-Maschine gezielt für Arbeiten am Erbgut zu nutzen. Ihre Studie erschien 2012 im Magazin Science. Mit dem Mini-Werkzeug können Gene verändert, an- oder ausgeschaltet und durch fremde Bestandteile ergänzt werden. Emmanuelle Charpentier forscht heute als Direktorin am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin.

Seit 2013 weiß man, dass Crispr/Cas9 auch beim Menschen funktioniert. Mittlerweile werden zudem andere Enzyme außer Cas9 als Schnittwerkzeug getestet. Außerdem zeigte sich, dass Crispr nicht nur DNA, sondern auch die etwas andere RNA schneiden kann. Somit käme die Gen-Schere möglicherweise sogar für den Kampf gegen gefährliche Viren beim Menschen, etwa HIV, infrage.

Es gibt jedoch noch ungelöste Probleme – etwa bei der zuverlässigen Reparatur der zerschnittenen Sequenzen. Crispr ist die Abkürzung für "Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats".

2019 im Zeichen der Batterie

Vergangenes Jahr ging der Nobelpreis für Chemie an drei verschiedene Wissenschafter: John Goodenough (USA), Stanley Whittingham (Großbritannien) und Akira Yoshino (Japan). Die Forscher wurden für ihre Beiträge in der Batterieentwicklung ausgezeichnet. Ihre Arbeit habe die Grundlagen für Lithium-Ionen-Batterien gelegt, hieß es zur Begründung.

Morgen, Donnerstag, wird der Nobelpreis für Literatur vergeben, tags darauf der Friedensnobelpreis. Die diesjährigen Verleihungen für Medizin und Physik gingen bereits zu Wochenbeginn über die Bühne.

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