Jedes achte Kind zeigt psychische Symptome wie Aggression und Angst
Im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie wird in Tirol seit März 2020 das psychische Wohlergehen von Kindern im Alter von drei bis zwölf Jahren beobachtet. In der zweiten Befragungswelle von Dezember bis Ende Jänner 2021 war ein deutlicher Anstieg an Angst- und Traumasymptomen zu verzeichnen. Die Direktorin der Innsbrucker Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kathrin Sevecke, zeigte sich am Dienstag "alarmiert" und forderte die Politik zum Handeln auf.
Auswertungen der zweiten Befragungswelle würden zeigen: "Rund 15 Prozent der Kinder wiesen mittlerweile Symptome, die auch klinisch relevant sind, auf", betonte Silvia Exenberger, Psychologin an der Kinder- und Jugendpsychiatrie am LKH Hall im Rahmen einer Pressekonferenz an der Medizinischen Universität Innsbruck. In der ersten Befragungswelle im März des Vorjahres waren es drei Prozent. 703 Familien, damit um 280 mehr als bei der ersten Befragung im Frühjahr 2020, und 224 Kinder hätten teilgenommen und die Onlinefragebögen ausgefüllt, berichtete Sevecke, die auch als Primaria der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am LKH Hall tätig ist.
Sevecke appellierte an die Politik, bei der Planung künftiger Maßnahmen die seelischen Folgewirkungen und teilweise Folgeschäden zu bedenken. Die Studienergebnisse und der klinische Eindruck bestärke sie in der Annahme, dass hier belastete und teilweise psychisch kranke Kinder heranwüchsen.
Nach Selbstauskunft der Kinder seien die Traumasymptome um rund 60 Prozent gestiegen, doppelt so viele Kinder wie noch in der ersten Befragungswelle gaben an sie seien besorgt oder ängstlich, teilte Exenberger mit. 45 Prozent mehr Kinder würden Aufmerksamkeitsprobleme zeigen, zudem seien die Kinder aggressiver und würden häufiger Rückzugsverhalten zeigen. "Nach Sicht der Eltern haben sich außerdem die somatischen Beschwerden, also beispielsweise Bauchweh oder Schlafstörungen mehr als verdoppelt", erklärte Exenberger. Hiervon seien vor allem Kindergartenkinder betroffen. Obwohl im zweiten Befragungszeitraum keine Quarantäne verordnet war, empfanden die Kinder ihre Lebensqualität als gleich niedrig wie im März 2020.
Ziel der Studie sei die langfristige Erfassung von Angst-, Stress- und Traumasymptomen sowie der Lebensqualität "der Kleinen", meinten die beiden Medizinerinnen. Unterstützt durch eine 24 Monate andauernde Förderung durch das Land Tirol sei eine dritte Befragungswelle für die Zeit zwischen den Oster- und Sommerferien geplant.
Zudem wolle man, so Sevecke, Online-Fokusgruppen mit Pädagogen und Führungskräften bilden, um ein Instrument zur Früherkennung von Belastungssymptomen sowie einen psychologischen Leitfaden zur besseren Bewältigung von Krisensituationen zu entwickeln. Wer bereit ist, an einer etwa eineinhalbstündigen, virtuellen Fokusgruppe teilzunehmen, kann sich per eMail anmelden.
In ihrer Funktion als Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Kinder-und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (ÖGKJP) verwies Sevecke auf überlastete Kinder und Jugendpsychiatrien und "ganz viele Krisenaufnahmen" in ganz Österreich. Zwei Drittel der akuten Fälle, etwa selbstverletzendes Verhalten oder Suiziddrohungen, seien auf die Pandemie zurückzuführen. "Wir können alle akuten Fälle behandeln, für längere Klinikaufenthalte reichen die Kapazitäten derzeit nicht", warnte Sevecke. Seit Monaten werde triagiert.
Sevecke nutzte die Pressekonferenz, um auf Versäumnisse in der Gesundheitspolitik hinzuweisen: Ressourcen müssten aufgestockt, ambulante Therapieplätze ausgebaut werden. Außerdem müsse die Behandlung psychisch kranker Kinder und Jugendlichen zur Gänze von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden. Es sei an der Zeit, alternative Behandlungsmöglichkeiten, wie etwa eine Behandlung zuhause ("Home-Treatment") zu fördern. "Auf Worte sind noch keine Taten gefolgt", kritisierte die Expertin das Land Tirol und Versäumnisse in der bundesweiten Gesundheitspolitik.