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Liraglutid: Die Abnehmspritze für Kinder könnte bald kommen

Im europäischen Raum lebt jedes dritte Kind mit Übergewicht oder Adipositas (starkes Übergewicht mit Krankheitswert, chronische Ernährungs- und Stoffwechselstörung), gab die WHO im Mai 2024 in einem neuen Bericht bekannt. Bereits als Kind stark übergewichtig zu sein, geht mit einem höheren Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes Typ 2 oder Krebserkrankungen einher. Viele behalten ihr Übergewicht auch im Erwachsenenalter. Frühzeitig zu intervenieren, ist deshalb ein großer Vorteil. 

"Bisher gibt es für die Altersgruppe der unter Zwölfjährigen keinerlei Medikation, um Adipositas zu behandeln“, sagt Daniel Weghuber, Vorstand der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde am Uniklinikum Salzburg gegenüber dem Science Media Center Germany (SCM). Experten arbeiten ausschließlich mit Lebensstilveränderungen im Rahmen von Familienschulungen, was sich gut anhört, aber vielfach schwierig sei in der Umsetzung.

Abnehmspritze als effektive Maßnahme

Die neue Studie, welche im Fachjournal New England Journal of Medicine vorgestellt wurde, hat jetzt den Wirkstoff Liraglutid (Markenname „Saxenda“) 56 Wochen lang an 82 stark adipösen Kindern zwischen sechs und zwölf Jahren getestet. Für Jugendliche ab zwölf und Erwachsene ist der Wirkstoff zur Behandlung von Diabetes und Übergewicht in Europa bereits zugelassen. 56 der Kinder erhielten einmal täglich eine Liraglutid-Spritze verabreicht, 26 ein Placebo. Die Teilnehmenden wurden zudem individuell zu gesunder Ernährung und körperlicher Aktivität beraten, schreiben die Forschenden um Claudia Fox der University of Minnesota. 

Da sich Kinder in der Wachstumsphase befinden und demnach natürlich an Gewicht zulegen, wurde anders als bei Erwachsenen nicht der Verlust von Kilos dokumentiert. Im Fokus der Beobachtung stand die durchschnittliche Veränderung des BMI (Verhältnis von Körpergewicht zur Größe). Die Kinder hatten im Schnitt einen BMI von 31, was starkes Übergewicht bedeutet. 

Das Ergebnis der Studie: Bei Kindern der Liraglutid-Gruppe verringerte sich der BMI um 5,8 Prozent, in der Testgruppe nahm er sogar um 1,6 Prozent zu. Generell legten die Kinder der Liraglutid-Gruppe durch Wachstum nur 1,6 Prozent an Gewicht zu, Kinder der Placebo-Gruppe jedoch 10 Prozent ihres Ausgangsgewichtes. "Diese Gewichtsveränderung ist das Zehnfache der Veränderung, die wir nur bei einer Lebensstilveränderung erwarten würden“, sagt Weghuber.

Liraglutid gehört wie Semaglutid, dem Wirkstoff im Diabetesmittel Ozempic und der Abnehmspritze Wegovy, zu der Medikamentenklasse der GLP-1-Rezeptoragonisten und wird auch vom Pharmahersteller Novo Nordisk vertrieben. Liraglutid ist eines der ersten GLP-1-Mittel und ein Vorgänger von Semaglutid. Da es schneller als sein Nachfolger abgebaut wird, müssen sich die Kinder das Mittel täglich spritzen und nicht wöchentlich. Liraglutid ist unter dem Handelsnamen Victoza bereits zur Behandlung von Diabetes mellitus Typ 2 und unter dem Namen Saxenda für die Gewichtsabnahme am Markt, sowohl bei Erwachsenen als auch bei Jugendlichen ab zwölf Jahren. Studien zeigen, dass die nächste Generation, Semaglutid und Tirzepatid, deutlich wirksamer das Gewicht reduzieren kann, weshalb diese Wirkstoffe auch nicht mehr täglich gespritzt werden müssen. 

2023 wurden die Medikamente vom renommierten Science-Magazin als wissenschaftlicher Durchbruch des Jahres gekührt. Novo Nordisk ist mittlerweile alleine aufgrund der Abnehmspritzen das wertvollste Unternehmen an der Börse in Europa. Mediziner warnen aber auch vor einem Missbrauch der Medikamente, die nur für die therapeutische Anwendung bei Adipositas und Diabetes Typ 2 zugelassen sind. 

Langzeitfolgen nicht ausreichend erforscht

Die neuen Erkenntnisse werfen die Frage auf, wie eine sichere, langfristige Therapie mit Liraglutid aussehen kann. "Diese Frage gilt nicht nur für Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren, sondern für alle Menschen mit dieser Therapie“, kommentiert Weghuber. Seit 2021 ist Liraglutid für Kinder ab zwölf Jahren zugelassen. Bekannt sei bisher nur, dass es bei einem überwiegenden Teil der Betroffenen nach Absetzen wieder zu einer Gewichtszunahme kommt. 

Wirkstoffe wie Liraglutid bewirken vor allem eine Regulation des Hunger- und Sättigungsgefühls in den entsprechenden Hirnzentren und ermöglichen so Veränderungen im Ernährungsverhalten. Nach derzeitigem Kenntnisstand muss es langfristig über Jahrzehnte eingenommen werden. Welche Langzeitfolgen eintreten könnten, ist bisher unklar, da diese und ähnliche Wirkstoffe noch nicht lange genug im Einsatz sind. 

"Eine Hoffnung besteht darin, dass eine frühzeitige Anwendung des Medikaments zu einer so deutlichen Wirkung führt, dass zu einem späteren Zeitpunkt die Dosis reduziert werden kann oder es sogar abgesetzt werden kann“, sagt Martin Wabitsch, Sektionsleiter der pädiatrischen Endokrinologie und Diabetologie am Uniklinikum Ulm, gegenüber dem SCM.

Nebenwirkungen ähnlich wie erwartet

Die Studienautoren beobachteten jene Nebenwirkungen, die bereits zuvor in Analysen mit Jugendlichen und Erwachsenen auftraten. Häufig kam es zu Übelkeit, Erbrechen und Durchfall. Knapp 11 Prozent der Kinder in Liraglutid-Therapie brachen die Einnahme deshalb ab. 

Wabitsch gibt zu bedenken, dass der Wirkstoff künftig vor allem für Kinder mit extremer Adipositas in Frage kommt - „und sicher nicht für alle Kinder mit Adipositas“. Diese kleine Gruppe von Patientinnen und Patienten sei durch eine starke biologische Anlage für Adipositas charakterisiert. Kennzeichnend sei ein Defekt der zentralen Regulation von Hunger und Sättigung. „Genau hier setzt Liraglutid an.“

Zulassung ist zu erwarten

Nachfolgemittel von Liraglutid, darunter Semaglutid (Markenname "Wegovy“) und Tirzepatid ("Mounjaro“) haben Studien zufolge eine bessere Wirkung, zudem müssen sie nicht täglich gespritzt werden. Studien zur Verträglichkeit und Wirksamkeit dieser beiden Wirkstoffe bei Kindern gibt es bisher noch nicht.

Semaglutid und Liraglutid sind in der EU und den USA ab zwölf Jahren zugelassen, erklärt Wabitsch. Die jetzige Veröffentlichung werde dazu führen, dass auch die Zulassung für Liraglutid ab sechs Jahren kommt, ist der Mediziner überzeugt. Für Semaglutid laufe im Universitätsklinikum Ulm derzeit eine ähnliche Studie bei Kindern, deren Ergebnisse für kommendes Jahr zu erwarten seien.