Warum die Olympia-Abfahrer schon im Training ans Limit gehen müssen
Von Christoph Geiler
Matthias Mayer ist gerade ein wenig hin- und hergerissen. Einerseits wäre es von Vorteil, wenn er im Training einmal den Ernstfall übt und die Abfahrt in Yanqing im Renntempo bewältigt, um dabei wertvolle Erkenntnisse für die Medaillenjagd am Sonntag zu gewinnen. Andererseits beäugen sich die Abfahrer auf dieser neuen Strecke, auf der allen die Erfahrungswerte fehlen, noch mehr als sonst.
Wer fährt wo welche Linie? Auf wessen Spuren lohnt es sich zu wandeln?
Und natürlich möchte keiner die anderen auf die richtige Fährte bringen. Denn nicht nur Matthias Mayer ist nach dem ersten Training klar: „Es gibt auf dieser Abfahrt Passagen, wo noch keiner weiß, wie er sie fahren soll.“ Also wird auch er, wohl oder übel, im Training einmal ans Limit gehen müssen, um für Sonntag gewappnet zu sein. „Es ist eine Gratwanderung. Aber du kannst im Training nicht nur bluffen.“
Die gestoppten Zeiten der Jungfernfahrten auf der von Bernhard Russi konzipierten Strecke hatten nur bedingte Aussagekraft. Die meisten Rennläufer verwendeten den ersten Trainingslauf als Besichtigungstour, nicht wenige hatten Orientierungsprobleme und fuhren in der kargen Gegend herum. „Ich bin einmal 15 Meter neben dem Tor gestanden“, erzählt Mayer, der noch ein bisschen Kopfarbeit vor sich hat. „Da herunter muss man sich viele Punkte merken.“
Größerer Favoritenkreis
In dieser Weltcupsaison war der jüngste Abfahrtssieger 29, ein Beleg, wie wichtig Routine auf den klassischen Abfahrten ist, die jedes Jahr auf dem Programm stehen. Auf der neuen Olympia-Abfahrt könnten sich die Kräfteverhältnisse verschieben, glaubt Matthias Mayer. „Da gibt’s einige, die dem üblichen Favoritenkreis näherrücken. Ich denke da an die Kanadier oder auch Daniel Hemetsberger.“
Welche Erkenntnisse hat das erste Abfahrtstraining aber sonst noch gebracht?
Die Strecke:
Die Abfahrer waren durch die Bank begeistert von der Olympia-Strecke. Es gibt Steilkurven, Sprünge, Schrägfahrten und ein Gleitstück. „Es ist für jeden Abfahrer was dabei“, sagt Doppel-Weltmeister Vincent Kriechmayr. Sein Teamkollege Daniel Hemetsberger hat vor allem am Schlussteil Gefallen gefunden. „Du fährst durch einen brutal engen Canyon, ich bin jetzt schon ein richtiger Fan“, sagt der 30-Jährige.
Der Schnee:
In Yanqing finden die Läufer einen Untergrund aus Kunstschnee vor, wie sie ihn aus dem Weltcup nicht kennen. „Der Schnee ist ein bisschen eigen“, verrät Vincent Kriechmayr, der sich ein bisschen an die Verhältnisse in Gröden erinnert. Hoffentlich hat sich der 30-Jährige mit seiner Einschätzung geirrt: Denn in den letzten fünf Gröden-Abfahrten war Kriechmayr nie in den Top 10.
Der Wind:
Es ist kein Wind von Traurigkeit, der rund um Yanqing und Zhangjiakou, wo die Langlauf- und Biathlon-Bewerbe stattfinden, sein Unwesen treibt. Sorgen bereitet den Athleten und Trainern vor allem, dass die Windböen immer wieder aus anderen Richtung kommen. „Es macht auf dieser Strecke einen riesigen Unterschied, ob du Rücken- oder Gegenwind hast. Da reden wir dann gleich einmal von Sekunden“, sagt Vincent Kriechmayr und prophezeit: „Der Wind könnte am Sonntag ein entscheidender Faktor sein.“