Wie Österreichs Fußball fast die Hälfte seiner Mitglieder verlor
Von Stefan Berndl
Rund 270.000 verlorene Vereinsmitglieder in fünf Jahren. Blickt man auf die Entwicklung der Zahlen, so könnte man meinen, dem Breitenfußball steht der nahende Exodus bevor. 2022 waren es laut ÖFB noch rund 297.000 Mitglieder, fast 50 Prozent weniger als noch 2017. Ein eklatanter Mitgliederschwund, der auch mit einem Vereinssterben einherging. Und beim größten Sportverband des Landes die Alarmglocken zum Schrillen bringen sollte.
Doch: So besorgniserregend die Zahlen auch aussehen, sie sind mit etwas Vorsicht zu genießen. Die Sorgen um den Breitenfußball sind zwar berechtigt, die Lage ist aber nicht so eindeutig, wie das auf den ersten Blick vielleicht erscheinen mag.
Pandemie und Krieg
Die letzten Jahre waren für den Fußball und Breitensport nicht die einfachsten. Erst die Corona-Pandemie inklusive Lockdowns, dann die mit dem Krieg in der Ukraine einhergehende Teuerung und Energiekrise. Das führte zu einem personellen und finanziellen Engpass. Gerade kleinere Vereine kämpften um die Existenz und tun das teilweise nach wie vor. Das macht sich auch in Niederösterreich bemerkbar, wo die Anzahl der Fußballvereine um knapp zehn Prozent abnahm. Alleine im letzten halben Jahr mussten sechs Klubs den Spielbetrieb teilweise oder komplett einstellen.
Was aber sind die Gründe für den enormen Rückgang an Vereinen und Mitgliedern? Mit welchen Problemen hat der Breitenfußball zu kämpfen? Und wie erklärt der ÖFB den Schwund in den letzten Jahren? Der KURIER begab sich auf eine Spurensuche, die unter anderem zu einem kleinen Verein in Niederösterreich führte, der exemplarisch für viele der Probleme steht, mit denen der Amateurfußball vielerorts zu kämpfen hat.
Genauer gesagt, zum SV Paudorf. Der Verein aus einer knapp 2.600 Einwohner großen Marktgemeinde im Bezirk Krems verkündete erst Anfang Februar das Ende seiner Männer-Mannschaft. Während das Frauen-Team seit Jahren erfolgreich in der Landesliga agiert und zuletzt sogar den sensationellen Einzug in das ÖFB-Cup-Viertelfinale schaffte, waren die Männer schon länger nicht mehr konkurrenzfähig. In der 2. Klasse Wachau/Donau, der achten und letzten Leistungsstufe, war Paudorf zuletzt die Schießbude der Liga. In der Saison 2021/’22 gelang nur ein Sieg aus 24 Spielen, dazu gab es 126 Gegentore. Im vergangenen Herbst spitzte sich die Lage mit 112 Gegentreffern in 12 Partien noch einmal zu.
Das Hauptproblem: Der Verein bekam nicht mehr genügend Spieler zusammen und hatte nicht die finanziellen Mittel, um neue Akteure nach Paudorf zu lotsen. "Wir haben lange und viel versucht, um das Ganze zu retten", sagt Jürgen Novotny. Der 46-Jährige ist seit 2018 Obmann des Vereins, ein Amt, dass er wie die meisten Funktionäre ehrenamtlich ausführt. Im Brotberuf ist er Standortleiter eines Baustoffhändlers, der auch als Sponsor des Vereins tätig ist.
Vergebliche Suche
"Wenn man schon mal mit dem Rücken zur Wand steht und Letzter ist, dann fällt es dem Spieler noch einfacher, Nein zu sagen und mehr Geld zu verlangen", führt Novotny aus. Und so führten sowohl Gespräche mit Spielern als auch Trainern ins Leere. "Aufwandsentschädigungen pro Spiel, Punkteprämie, Kilometergeld, Spritgeld. Wenn ich das alles zusammenrechne, komme ich in Bereiche, wo ich sage: Das kann ich mir finanziell nicht mehr leisten."
Und so fiel schließlich die Entscheidung, den Spielbetrieb bei den Herren einzustellen. Die Frauen- und Nachwuchsabteilung, die laut Novotny auch deutlich billiger sind, bleiben aber intakt. Grundsätzlich werde es aber "nicht einfacher, Spieler und Funktionäre zu finden. Das ist ein langer Suchprozess."
Die Corona-Pandemie hat in den letzten Jahren einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass dem Sport Mitglieder abhanden kamen. Das weiß auch Sport-Austria-Präsident Hans Niessl. Der ehemalige Landeshauptmann des Burgenlandes ist seit 2019 Chef der Bundessportorganisation. Und der 71-Jährige schlug bereits Ende 2021 Alarm, als eine Untersuchung einen Schwund von rund 550.000 Mitgliedern in Sportvereinen seit 2017 belegte. Gemeinsam mit Sportminister Werner Kogler startete man die Initiative “comebackstronger”, mit der man laut Niessl bereits wieder 200.000 Menschen zurückgewinnen konnte. Die vielleicht schwierigere Frage ist aber, wie man diese halten kann.
Karteileichen
Auch im Fußball gingen die Zahlen im letzten Jahr wieder leicht nach oben. Der ÖFB meldete Sport Austria rund 297.000 Vereinsmitglieder ein. Ein Anstieg um knapp zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Und doch ist da dieser eklatante Absturz seit 2017. Von den damals fast 568.000 Mitgliedern sind nur noch knapp die Hälfte übrig. Der ÖFB erklärt dies mit einer gleich doppelten Umstellung der Zählweise.
2018 folgte der erste Einbruch: In die Statistik fielen ab da nur noch jene Spielerinnen und Spieler, Trainer, Funktionäre oder Schiedsrichter, die in der Meisterschaft aktiv und im Online-System von fussballoesterreich.at erfasst waren. Somit fielen da bereits viele "Karteileichen" aus der Wertung. Zuletzt nutzte der Verband die Corona-Pandemie, um neuerlich eine Änderung zu vollziehen und die Kriterien zu schärfen. Nun müssen Aktive zumindest einmal pro Saison im Meisterschaftsbetrieb eingesetzt werden, um auch tatsächlich als "aktives Mitglied" erfasst zu werden.
Die vermeintliche Halbierung ist also zu einem großen Teil einer statistischen Bereinigung geschuldet, die Lage im Breitenfußball ist aber dennoch besorgniserregend. Zumal zwar damit der Einbruch unter den Mitgliedern zu erklären ist, nicht aber jener bei den Vereinen. In den letzten fünf Jahren ging deren Anzahl um 200 zurück (von 2.217 auf 2.015).
Geht es nach ÖFB-Generalsekretär Thomas Hollerer, braucht es daher auch "weitere Analysen und Maßnahmen, um dem Trend entgegenzuwirken." Er beobachte zudem auf kommunaler Ebene "viele Zusammenlegungen und Fusionen. Nicht nur im Sport". Dennoch zeigt sich bei einem Blick auf die Zahlen, dass vor allem der Fußball mit einem Schwund zu kämpfen hatte. Andere Sportarten - wie Tennis, Golf oder Turnen - blieben konstant oder legten sogar zu.
Für Niessl ist das auf die zunehmende Konkurrenz für den Fußball zurückzuführen: "In meiner Jugendzeit gab es keine Alternative. Da gab es am Land eine Sportart, und zwar Fußball. Und das haben praktisch alle Kinder gemacht. Heute haben wir ein viel breiteres Angebot." Hollerer sieht das ähnlich: "Das Freizeitverhalten der Menschen – besonders der Kinder – hat sich in den letzten Jahren massiv geändert. Das ist nicht nur im Sport der Fall. Die Pandemie hat diesen Trend beschleunigt."
Kein Kinderspiel
Hinzu kommen finanzielle Sorgen. Einerseits die durch den Spielbetrieb anfallenden Kosten, wie Novotny erklärt: "Wenn man etwa auf ein Fußballspiel geht. Da ist klar, dass der Rasen gemäht ist, dass die Dressen gewaschen oder die Kabinen und die Kantine gereinigt sind." Viele Kleinigkeiten, "die man von außen nicht sieht". Novotny spricht dabei von einem fünfstelligen Betrag. Andererseits die Suche nach Sponsoren, bzw. die Herausforderung, bereits aktive Unterstützer bei Laune zu halten. Für Novotny "eine Mammut-Aufgabe."
Finanzielle Hilfe gab es zuletzt vom Staat. Etwa den NPO-Fonds im Zuge der Corona-Pandemie, bei dem laut Niessl etwa 240 Millionen Euro - 170 Mio. für den Breiten-, 70 Mio. für den Spitzensport - ausgeschüttet wurden.
Dazu kam zuletzt auch ein Energiekostenausgleich für Sportstättenbetreiber, der mit 15 Millionen dotiert war. In Summe seien in den letzten Jahren etwa 300 Millionen Euro für den Sport ausverhandelt worden, sagt Niessl, der die getroffenen Maßnahmen daher auch als "kräftig und international herzeigbar" bezeichnet. Aber Geld ist – zumindest im Amateursport – eben nicht alles.