Wandern in Marokko: Schnee statt Wüste
Riecht ihr das?, fragt der Führer. Jeder merkt, wie sich Abdellahs Gesicht erhellt, als er aus dem Bus aussteigt. Marrakesch, das sei was für Städter: die bunten Gewürze, die Düfte, die Unterhaltung, das Shoppen. Doch hier in den Bergen, da ist Abdellah zu Hause. Hier ist die Luft kühler und reiner. Hier hört man Vögel und Kühe – nicht den Verkehr und die Marktschreier. Und an diesem Märztag, da riecht man den Schnee.
Das Aït Bougoumez Tal, rund fünf Autostunden von der Millionenmetropole Marrakesch entfernt, heißt unter Kennern „das glückliche Tal“. Wer Abdellahs Gesicht ansieht, versteht das sofort. Es ist das glückliche Tal, weil hier eine Farbe überwiegt, für die Marokko eigentlich nicht bekannt ist: ein sattes, saftiges Grün. Eine Farbe, die für Fruchtbarkeit und Leben steht. Bei der Anreise von Marrakesch über Azilal, vorbei an den staubigen braunen Hügeln und nach den kurvigen Passstraßen in den steinigen Bergen, nach dem letzten Pass, sieht man erstmals das Aït Bougoumez Tal, das wie eine Oase im Hohen Atlas auf rund 2.000 Meter Höhe zwischen den Bergen liegt.
Abdellah ist hier geboren. Die Berge und Hügel des Hohen Atlas kennt er wie seine Westentasche. Als Kind war er schon auf den Feldern und Bergen der Region unterwegs. Heute ist das als Berg- und Fremdenführer sein Beruf. Für das Grazer Reiseunternehmen Weltweitwandern begleitet er Reisegruppen in verschiedene Destinationen in Marokko. Am liebsten natürlich in seine Heimat, das glückliche Tal.
Trampelpfade und digitales Entgiften
Über Nacht hat es geschneit. Nur langsam lichten sich die dichten Wolken am Himmel und die weißen Gipfel zeigen sich. Der Himmel wird blau. Nach einem herzhaften marokkanischen Frühstück geht es zur ersten Wanderung. „Spaziergang“ nennt es eine Teilnehmerin aus der Steiermark, Abdellah lacht. Das sollte noch zum Running-Gag hier im Hohen Atlas werden.
Über Trampelpfade führt Abdellah die Gruppe durch die Felder, immer wieder erklärt er Landwirtschaft, Bräuche, Politik und Wetter. Für viele ist es eine Chance, in die Berberkultur und -geschichte einzutauchen, und auch, um den Islam von einer unaufgeregten Seite kennenzulernen.
An einem Bach packt Abdellah mitgebrachte Nüsse und getrocknetes Obst aus. Es ist gut, dass er etwas mitgenommen hat, auch „Spaziergänger“ brauchen Energie. Unterwegs kann man hier kaum etwas kaufen. Abdellah bietet einem vorbeigehenden Bauernpaar Nüsse an. Die beiden gesellen sich dazu. Dann geht es weiter.
Zwiebelfelder, Apfel-, Marillen-, Quittenbäume, Olivenhaine. An Kühen, Schafen und Ziegen führt der Weg vorbei. Immer wieder bewundert man die atemberaubende Landschaft, die Freundlichkeit der Menschen und die Architektur der Lehmhäuser, die an eine längst vergangene Zeit erinnert. Und immer hat Abdellah eine Geschichte zu erzählen. Nicht aus Sicherheitsgründen braucht man hier den Bergführer. Die Wege sind durchwegs einfach und nicht gefährlich. Doch nur, wer das Tal wirklich gut kennt, weiß, welche Pfade an die schönen Stellen führen – durch die engen, steilen Gassen des Berberdorfes Ait Emi, vorbei an einer der zwei Wassermühlen des Tals, ein Schritt auf die Seite, um Packesel vorbeizulassen, die von den Feldern kommen.
Mittagspause auf 1.900 Metern Höhe
Für die Mittagspause hat Abdellah einen Platz zwischen Äpfel- und Marillenbäumen auf 1.900 Meter Höhe ausgesucht. Der Koch und seine Helfer sind mit den Eseln hier hergekommen und haben Couscous mit gedämpftem Gemüse gezaubert. Nach einer langen Pause mit Mittagessen, Tee und würzigem Berberkaffee geht es weiter.
Auch zu der "école vivante" führt eine Wanderung. Die Volksschule, die von der Deutschen Itto Tapal-Mouzoun vor einigen Jahren in dem Tal gegründet wurde, wird von Weltweitwandern unterstützt.
Es heißt ja, dass man sich mit 10.000 Schritten täglich vor Alterskrankheiten schützen kann. Nun, hier macht man fast doppelt so viel. 14,2 Kilometer legen wir am ersten Tag im Tal zurück. „Ein Spaziergang?“, lacht Abdellah noch immer. An zwei weiteren Wandertagen soll es ähnlich sein.
Dazwischen liegt ein Regentag, doch den will hier keiner missen. Denn da erzählt Abdellah noch mehr über die Geschichte Marokkos und die Berberkultur, zeigt im Gemeinschaftsraum des Hotels Schritt für Schritt bei offenem Feuer, wie (und mit welchen Gewürzen!) die beste Ziegentajine geschmort wird, und lädt zu einem Nachmittag bei einer Berberfamilie, wo er die Teekultur beschreibt. Natürlich – wie immer – mit reichlich zu naschen. Mit Humor und Herz bringt Abdellah den Österreichern die Berberkultur näher. 65 Prozent der Bevölkerung gehören indigenen Berberstämmen an.
Am Nachmittag bleibt Zeit für das Hammam im Gästehaus. Es wird entspannt, gewaschen und getratscht – wie es im Hammam eben sein muss. Nach dem Abendessen wird wie immer Tee serviert in schönen Silberkannen: Verbene – für den guten Schlaf.
Das Gästehaus „Dar Itrane“ ist in der traditionellen Bauart mit Lehm gebaut. Er speichert die Wärme, was gut ist, denn nachts kann es schon gegen null Grad kalt werden. Mit einer elektrischen Heizung kann das Zimmer aufgewärmt werden, doch der Strom fällt nachts oft aus. Die dicke Decke wärmt. Strom gibt es hier erst seit fünfzehn Jahren, fließendes Wasser seit zehn. Vor allem der Strom ist teuer, viele Bewohner sparen deshalb.
Die meisten Handys der Österreicher funktionieren hier im Tal gar nicht. WLAN sucht man vergebens. Mit Buch und Stirnlampe liest man sich abends unter der Decke in den Schlaf oder vor dem Kamin im Gemeinschafts-Esszimmer. Das digitale Detox stört in der Gruppe niemanden.
Marrakesch, der reinste Luxus
Zurück in Marrakesch. Voller Eindrücke und von den langen Fußmärschen angenehm ausgelastet, bleibt noch ein Tag in der Millionenstadt. 24 Stunden, die nach den vier Tagen im Tal wie der reinste Luxus wirken. Tage, an denen man sich schnell daran gewöhnt hat, mit dem Grundlegendsten tatsächlich glücklich zu sein. Fast ein wenig dekadent. Mit dem Van zum Hauptplatz (Djemaa el Fna), die Gepäckträger bringen die Koffer in die kleinen Gassen der Medina.
Vor einer hohen Wand mit großem Holztor machen sie Halt. So sehen die meisten Hotels (Riads) hier aus, beinahe unsichtbar. Das Tor öffnet sich, dahinter verbirgt sich ein kleines Paradies. Der Innenhof ist hell, ein Pool in der Mitte, in den von einem Brunnen Wasser plätschert. In einer riesigen Schale schwimmen Rosenblätter. Empfang mit Tee und Keksen, Check-in in den Zimmern, die wie in vielen Riads mit Liebe in marokkanischem Stil eingerichtet sind und den Standards von wohlhabenderen Hotelgästen entsprechen.
Infobox
Angebot
Marrakesch inkl. André Hellers Anima-Garten und Hoher Atlas; Wander- und Genussreise in Begleitung einheimischer Stadtführer bzw. Bergführer in deutscher Sprache: 8 Tage ab 1.350 € inkl. Flug ab Wien, München oder Frankfurt (bei anderen Städten evtl. Aufpreis)
www.weltweitwandern.at
Reisezeit
März bis Juli sowie September und Dezember 2020
Unterkunft
In Marrakesch in einem traditionellen Riad (Haus mit Innenhof), im Tal in einer Eco-Lodge (Gästehaus mit nachhaltigem Management)
Kultur
Zum Eintauchen in die marokkanische Kultur und Musik: Konzert der Musikerin Oum: Helmut-List-Halle, Graz (21. Oktober, 19 Uhr);
Porgy & Bess, Wien (22. & 23. Oktober, 19 Uhr). Der Erlös kommt Sozialprojekten im Hohen Atlas zugute. Infos: weltweitwandernwirkt.at