Warschau: melancholisch - und trotzdem schön
Von Michael Hufnagl
Ich mag Städte und rede gerne über meine Lieblingsdestinationen: Barcelona, Amsterdam und Hamburg. Sydney, Istanbul und Stockholm. New York, Siena und Prag. Umso größer war die Irritation der Freunde, als ich die nächste Destination verriet: Warschau. Eine Stadt, die auf der Attraktivitätsskala für Kurzurlauber irgendwo zwischen Tirana und Bukarest angesiedelt scheint. Warschau für einen Businesstrip? Ja, klar. Warschau für einen Familienausflug? Danke, nein. Warum doch? Ganz einfach: um Geschichte zu tanken.
Ein Ort der Narben
Möglicherweise war ich emotional noch nie so von einer Stadt eingenommen. Warschau ist wie eine Frau, deren Schönheit man oft erahnen, aber kaum je wirklich sehen kann. Weil ihr Gesicht so voller Wunden und ihre Seele so voller Narben ist, dass es schwer fällt, ihr Lächeln zu entdecken und ihre Kraft zu bewundern.
Natürlich gab es bedeutende polnische Persönlichkeiten wie Nikolaus Kopernikus, Frédéric Chopin, Papst Johannes Paul II . oder Marie Curie, die einem hier als Universität, Museum, Plakat, Straßenname oder Denkmal begegnen.
Ort der Mahnmale
Und so sehr die vielen Parks, Kirchen und Restaurants dem Städtetouristen als sehenswerte Begegnungszone erscheinen mögen, so wenig ist ein Spaziergang möglich, ohne daran erinnert zu werden, dass zum einen im Warschauer Aufstand (Powstanie Warszawskie) das polnische Volk so lange Widerstand leistete, bis es zum historischen Gemetzel kam. Und dass zum anderen der Rassenwahn im NS-Reich nirgendwo so grauenhaft in die Tat umgesetzt wurde wie bei der nahezu vollständigen Auslöschung der Warschauer Juden.
So groß wie der neunte Wiener Bezirk war das Getto. Rund 45.000 Menschen leben heute in Wien Alsergrund. Bis zu 450.000 Menschen mussten damals auf dem selben Wohnraum vegetieren. Von den sechs Millionen getöteten Juden waren drei Millionen Polen. Das alles und viel mehr zur Geschichte einer Stadt und eines Landes ist in zwei grandiosen Museen zu sehen. Orte der Dokumentation, der interaktiven Begegnung mit Totalitarismus und Tötungswahn. Das jüdische Museum (Muzeum Historii Żydów Polskich POLIN), 2014 fertiggestellt, ist das größte seiner Art in Europa. Das Museum des Widerstands (Muzeum Powstania Warszawskiego) möglicherweise das spektakulärste. Nicht nur wegen der Exponate, Bilder und Dokumente, sondern auch wegen der präzisen Aufarbeitung der Geschichte und des völligen Verzichts auf Zorn und Gehässigkeit. Keine Spekulationen. Nur Fakten. Wer den Willen hat, sich dieser Auseinandersetzung zu stellen, sich von Filmen, Fotos und Literatur auf dem steinigen Weg der Vergangenheitsbewältigung begleiten zu lassen, muss die Reise in die polnische Hauptstadt beinahe als Pflicht sehen.
Dieser Text ist die Kurzversion einer Reportage, erschienen beim journalistischen Projekt www.michael-hufnagl.com
Info
– Mit dem Zug: Ohne Umsteigen ab Wien Hbf zum Gdynia Glowna Bahnhof in Warschau mit EC oder Railjet, Fahrzeit: ca. 10 h.www.oebb.at
Währung Obwohl Polen EU-Mitglied ist, zahlt man mit dem Polnischen Zloty . 1 € = 4,2673 PLN (Stand 15.12.)
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Highlights Ein Bummel durch die Altstadt Stare Miasto zur Neustadt Nowe Miasto, Park Saski, Palast der Kultur im Centrum, Śródmieście Północne – auf den Spuren des Warschauer Gettos.
Auskunft www.polen.travel