Zeugnis für die Schulen: Das sind die 10 größten Probleme
Jeder sechste Schüler hat in Österreich Probleme beim Lesen. Und jeder Fünfte hat die Mathematikmatura nicht auf Anhieb geschafft. Es hakt im System Schule. Was also tun? Das raten Experten.
Brennpunktschulen
An manchen Standorten häufen sich die Probleme: Migration, Kinder aus sozial schwachen und bildungsfernen Familien sowie Schüler mit psychischen Problemen. Dass diese Schulen besondere Unterstützung brauchen, ist mittlerweile unbestritten. Fakt ist aber auch: Brennpunktschulen sind ein Phänomen der Städte, wo sie weniger Ressourcen zur Verfügung haben als Kleinschulen auf dem Land. Sitzen dort oft nur acht oder zehn Kinder im Klassenzimmer, sind es in Wien 20 bis 25 Schüler. Das hat Folgen: Viele Kinder beherrschen nicht einmal die Grundlagen . Die Bildungsexpertin und ehemalige Schuldirektorin Heidi Schrodt fordert deshalb: „Wir brauchen ein ganzheitliches Rezept für diese Schulen.“ Sprachförderung alleine reiche nicht: „Von den geplanten Deutschklassen halten Experten zudem wenig.“
Die Bildungspsychologin Christiane Spiel nennt als eine Lösung den Chancenindex. „Der definiert, welche Schule besonders große Herausforderungen hat und deswegen zusätzliche Ressourcen erhalten sollte.“
Disziplin
Es dreht sich aber nicht nur ums Geld, betont Andrea Walach, Direktorin an der Neuen Mittelschule Gassergasse in Wien: „Es geht auch darum, dass Regeln eingehalten werden, etwa die Schulpflicht. Wir brauchen Möglichkeiten, sofort Konsequenzen zu setzen, wenn ein Kind zum Beispiel drei Tage unentschuldigt fehlt – im Extremfall kann das sogar ein Strafantrag gegen die Eltern sein.“ Heidi Schrodt verweist auf Erfahrungen aus London, wo die Einhaltung von Regeln als wichtiger Teil eines Gesamtkonzepts gesehen wird: „Es werden umgehend Maßnahmen gesetzt, wenn ein Kind zu spät kommt oder keine Hausübung bringt.“
Sozialarbeiter
Lehrer haben oft keine Zeit, dass sie sich um die Familien und deren Probleme kümmern. Für diese Aufgaben wünscht sich Direktorin Walach Sozialarbeiter: „Diese könnten um 8 Uhr die Eltern anrufen, wenn das Kind nicht in der Schule ist. Oder ihnen klarmachen, warum Hausübungen wichtig sind.“ Sozialarbeiter fehlen aber nicht nur an Brennpunktschulen, meint Elisabeth Rosenberger, Elternvertreterin für die Wiener AHS: „Es sollte in jeder Schule zumindest ein Mal wöchentlich einen Fixtermin geben, wo ein Sozialarbeiter anwesend ist. Und er sollte für Notfälle erreichbar sein.“
Kindergarten
Schon bei der Einschulung zeigen sich riesige Entwicklungsunterschiede zwischen den Kindern. Bildungspsychologin Spiel fordert deshalb: „Wir müssen den Kindergarten als Bildungseinrichtung begreifen und massiv in die Qualität investieren. Diese Bildungseinrichtung hat übrigens die beste Rendite – denn je früher man Defizite ausgleicht, desto billiger ist es.“ Auch in der Volksschule ließe sich noch viel aufholen – eine Lehrerin ist mit 25 Kindern, die oft ein sehr unterschiedliches Leistungsniveau haben, überfordert.
Übergänge
Das österreichische Schulsystem kennt viele Schnittstellen: Kindergarten, Volksschule, Unterstufe, Oberstufe. Zumeist gibt es wenig Austausch zwischen den Institutionen. Herbert Weiß von der AHS-Lehrergewerkschaft ist überzeugt, dass ein Schnittstellenmanagement notwendig wäre: „Eine Kooperation zwischen den Pädagogen würde auch den Übergang für die Kinder erleichtern.“
Matura
Für Elternvertreterin Rosenberger ist klar: „Die Matura muss ohne Denkverbote evaluiert werden. Nicht nur im Fach Mathematik, sondern auch in den Sprachen. Es geht um Fragen wie: Was sollte zentral sein und was nicht? Welche Inhalte muss man können? Muss wirklich jede Kindergärtnerin in Mathematik maturieren?“ Ihr Argument: „Wenn man Latein für ein Studium braucht, kann man es auch nachholen.“ Hinterfragen müsste man zudem Umfang und Zeitpunkt der vorwissenschaftlichen Arbeiten. Lehrervertreter Weiß hofft, dass hier nachgeschärft wird. Das Gleiche gelte für die Neue Oberstufe, kurz NOST. „Das bisher entwickelte System muss noch überarbeitet werden.“
Schulschwerpunkte
Eine Herausforderung ist zudem, dass die Schülerschaft immer unterschiedlicher wird. Darauf muss die Schule reagieren. Das Zauberwort heißt Schulentwicklung, wie Bildungsexpertin Spiel betont: „Die Standorte brauchen Unterstützung dabei, ein Konzept zu erarbeiten, wie sie auf ihr Klientel bestmöglich eingehen und diese fördern.“ Beispiel: Wie gehe ich damit um, dass viele Schüler ein Lesedefizit haben. Oder wie unterrichtet man in einer Klasse, in der die Kinder ein sehr unterschiedliches Sprachniveau haben – Frontalunterricht ist dort nicht möglich.
Schulexpertin Spiel präzisiert: „Schulentwicklung ist als gemeinsame Aufgabe von Schulleitung und Lehrkörper zu sehen und fördert damit auch Kooperation und Austausch.“
Im Klartext: Die Schulen brauchen Autonomie, wie sie Pflichtschulgewerkschafter Paul Kimberger vehement einfordert: „Es wird Zeit, dass die Gängelung durch die Schulbehörden aufhört.“
Fürs Leben lernen
Mathematik, Englisch oder Deutsch: Im Zeugnis werden nur Schulfächer bewertet, nicht aber andere Fähigkeiten, die Kinder in Zukunft mindestens genau so benötigen. Teamfähigkeit, Fake News erkennen, Kritikfähigkeit. „Wir sollten uns überlegen, wie sich diese Kompetenzen im Zeugnis widerspiegeln“, sagt Christiane Spiel.
Digitalisierung
Diese geht vielen Schulen zu schnell voran, warnt Elternvertreterin Elisabeth Rosenberger: „Ich glaube nicht, dass schon in allen Schulen angekommen ist, was im Bereich digitaler Bildung ab Herbst unterrichtet werden soll. Es fehlt an Geld, Infrastruktur und Materialien. Ich bezweifle, dass alle Lehrer bereits die Kompetenzen haben, Digitales in ihren Unterricht einzubringen.“
Die Lehrer
„Lehrer prägen fürs Leben – und das sollten sie auch“ , schreiben die Maturantinnen Elodie Arpa und Walburga Plunger aus der AHS Bachgasse in Mödling (NÖ) in einem offenen Brief an den Bundespräsidenten und den Bildungsminister. „Junge Lehrer werden ins kalte Wasser geworfen, erfahrene werden mit unwilligen Schülern konfrontiert.“ Sie wollen eine bessere Unterstützung und Begleitung für die Lehrer. AHS-Sprecher Weiß warnt: „In einem Jahr wird das Unterrichtspraktikum für Neulehrer abgeschafft und durch eine Induktionsphase ersetzt. Dabei gibt es weniger Zeit für Betreuer und Betreute.“
Weil die Pädagogen der zentrale Erfolgsfaktor für ein Schulsystem sind, wünscht sich Bildungspsychologin Spiel, „dass man der Gesellschaft vermitteln soll, wie schön und wichtig der Lehrberuf ist“. Sie plädiert für einen Diskurs über die Aufnahmeverfahren. Heißt: Wie schafft man es, die Besten zu motivieren und die Ungeeigneten fernzuhalten.
Das Abschlusswort zum Thema Bildung haben die Maturantinnen aus der Bachgasse: „Man müsste einen wahrlich großen Sprung wagen. Das ist risikoreich, kostspielig und ungewiss.“ Aber notwendig: „Denn alles um uns verändert sich vollkommen.“