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Ex-Wirecard-Buchhalter bricht sein Schweigen und entschuldigt sich

Seit vier Jahren sitzt der frühere Wirecard-Vorstandschef Markus Braun in Untersuchungshaft, seit über eineinhalb Jahren versucht das Landgericht München I, Licht in das Dunkel des größten deutschen Betrugsfalls seit 1945 zu bringen. Mitangeklagt mit Braun ist der frühere Chefbuchhalter E. und der früher in Dubai für Wirecard tätige Manager Oliver Bellenhaus.

Ein Urteil ist bisher nicht in Sicht. Doch wie weit ist die vierte Strafkammer des Landgerichts München I bisher bei der Aufklärung gekommen? Eine Übersicht über das Mammutverfahren:

Am heutigen 138. Verhandlungstag äußerte sich der frühere Chefbuchhalter des Konzerns erstmals zu den Anklagevorwürfen. Die Kammer stellte dem Bilanzfachmann für den Fall eines umfassenden Geständnisses einen Deal mit "nur" sechs bis acht Jahren Haft in Aussicht.

Dünne Aussagen

Ex-Buchhalter E. schränkte die Erwartungen allerdings bereits zu Beginn seiner Aussage ein. Zum Drittpartnergeschäft, das beim Zusammenbruch von Wirecard eine zentrale Rolle spielte, äußerte sich E. vorerst nicht. Dies sei nicht Schwerpunkt seiner Arbeit gewesen, viele Informationen dazu habe er nur vom Hörensagen. Er könne nur „von vielen Jahren Schreibtisch“ bei Wirecard erzählen.

E. räumte zunächst ein, Fehler gemacht zu haben, die er bereue und für die er sich entschuldigen wolle. Allerdings betonte er auch, sich nicht persönlich bereichert und stets das Beste für das Unternehmen gewollt zu haben.

Zudem habe er sich mit vielen Dingen nur sehr knapp beschäftigt und sich auf die Fachabteilungen verlassen. „Ich hatte sehr viele Themen auf dem Tisch und kam mir vor, wie ein Jongleur, der voll damit beschäftigt war, dass kein Ball herunterfällt“, beschrieb E. seine Tätigkeit. Dabei habe er keine Zeit gehabt, sich mit den einzelnen Bällen eingehender zu beschäftigen. Heute sehe er aber ein, dass er innehalten und dies hätte tun sollen.

Insgesamt zeichnete E. ein Bild von schlechter personeller Ausstattung, schlechten Prozessen und überforderndem Arbeitsvolumen. „Es war eigentlich immer so, dass zwei Leute gleichzeitig etwas von mir wollten“, beschrieb er seinen typischen Arbeitstag. Insbesondere bei den Jahresabschlüssen habe es viel Zeitdruck gegeben. „Man hat nicht die Zeit und die Kraft, alles zu hinterfragen. Dafür gibt es die Fachabteilung“, sagte E. Auf deren Informationen müsse man vertrauen können. Oft habe man deren Antworten nur an die Wirtschaftsprüfer weitergeleitet. „Wenn die zufrieden damit waren, waren wir es auch.“

Im Rückblick zeigt sich: Im Juni 2020 musste Wirecard Insolvenz anmelden, weil dem Zahlungsdienstleister 1,7 Mrd. Euro fehlten: Das Geld war in der Konzernbilanz verbucht, angeblich auf Treuhandkonten in den Philippinen deponiert - doch nirgendwo auffindbar.

Laut Staatsanwaltschaft 3 Milliarden Euro Schaden

Im Frühjahr 2022 erhob die Staatsanwaltschaft München I schließlich eine 474 Seiten umfassende Anklage mit mehreren Straftatbeständen: unrichtige Darstellung wegen falscher Unternehmensbilanzen, Untreue wegen Kreditvergabe ohne Sicherheiten, Marktmanipulation wegen falscher Information des Finanzmarkts und - der gravierendste Vorwurf - gewerbsmäßiger Bandenbetrug.

Die Chefetage eines deutschen DAX-Konzerns soll demnach als kriminelle Bande agiert haben, um gemeinsam die kreditgebenden Banken zu prellen. Die Staatsanwaltschaft beziffert den Schaden auf gut drei Milliarden Euro. Der Großteil der erfundenen Geschäfte soll demnach im Mittleren Osten und Südostasien über die drei Partnerfirmen Al Alam, Senjo und Payeasy verbucht worden sein, die angeblich im Wirecard-Auftrag Kreditkartenzahlungen abwickelten.

Braun weist Vorwürfe zurück

Hauptangeklagter ist der frühere Konzernchef Braun. Er soll laut Anklage die Höhe der vom Konzern veröffentlichten falschen Zahlen vorgegeben haben. Braun streitet eisern sämtliche Vorwürfe ab. 

Als Kronzeuge der Anklage tritt Bellenhaus auf, der nach eigenen Worten "Regenmacher" im Konzern war. Bellenhaus räumt die Anklage im Gegensatz zu seinem einstigen obersten Vorgesetzten weitestgehend ein. 

Beide beschuldigen sich daher gegenseitig der Lüge. Auch deswegen kommt der Aussage des früheren Chefbuchhalters E. große Bedeutung zu. Der ehemalige Wirecard-Vertriebsvorstand und Österreicher, Jan Marsalek, ist weiter auf der Flucht.

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Rätsel- und Verwirrspiel

Der Prozess trägt Züge eines Rätsel- und Verwirrspiels, da die Aussagen Brauns und Bellenhaus' einander in jeder Hinsicht widersprechen.

Gesichert ist zwar nach den bisherigen 137 Prozesstagen, dass es bei Wirecard kriminell zuging - auch Ex-Vorstandschef Braun behauptete nie, dass bei Wirecard nicht betrogen wurde. Aber nicht geklärt ist, wer welche Rolle spielte.

Zeugen bestätigten, dass es ein Geflecht von Scheinfirmen gab, und dass Strohleute diese leiteten. Ein aus Singapur eingeflogener Zeuge sagte aus, dass die Partnerfirma Senjo gar keine Server und Computer für die Abwicklung von Kreditkartenzahlungen gehabt habe.

Zweifelsfreie Beweise fehlen

Eine thailändische Verkäuferin, die angeblich Managerin eines Wirecard-Geschäftspartners gewesen war und Verträge unterschrieben hatte, sagte aus, von beidem nichts gewusst zu haben. Von Zeugen bestätigt sind auch die Vorwürfe der Kreditvergabe ohne Sicherheiten ebenso wie die falsche Information des Kapitalmarkts.

Doch es fehlen zweifelsfreie Beweise, dass Braun und Chefbuchhalter E. Mitglieder einer Betrügerbande gewesen wären. Erschwert wird die Aufklärung, weil sich der Großteil des Geschehens im Mittleren Osten und Südostasien abspielte. Das Gericht lud bisher Dutzende von Auslandszeugen, von denen die allermeisten nicht erschienen.

Prozesstage bis kurz vor Weihnachten

Ex-Vorstandschef Braun sagte mehrfach aus, dass die Geschäfte des Unternehmens - und die Milliardenumsätze - nicht erfunden, sondern real gewesen seien. Nach Brauns Darstellung sollen der abgetauchte Vertriebsvorstand Jan Marsalek, Bellenhaus und weitere Komplizen die wahren Betrüger gewesen sein, die dem Konzern Milliarden stahlen und auf eigene Konten umleiteten.

Die Kammer setzte Prozesstage bis kurz vor Weihnachten an. Ein ganz wichtiger Zeuge muss noch vernommen werden: Insolvenzverwalter Michael Jaffé. Dieser entdeckte bei seinen Nachforschungen bisher keine Spur der verschwundenen Milliarden, von deren Existenz Braun überzeugt ist.