War das schon alles? Oder: Wo bleibt eigentlich die digitale Schule?
Von Bernhard Gaul
Wer jetzt nach Estland schaut, den schaudert’s. Nicht, dass dort etwas nicht stimmen würde, ganz im Gegenteil: Die Esten gelten als Musterschüler bei eLearning und der digitalen Schule, beim digitalen Klassenbuch und den virtuellen Lernplattformen. Auch die Niederlande sind da sehr gut unterwegs, und natürlich auch das Bildungsland Finnland.
Es schaudert einen also nicht, weil in Estland irgendwas im Argen liegt, sondern weil wir feststellen müssen, was wir alles bei der nie erfolgten Digitalisierung im Bildungsbereich verabsäumt haben.
Monika Köppl-Turyna und Hanno Lorenz von der Agenda Austria haben in einer aktuellen Analyse die Schwächen unseres Systems offengelegt.
Kalt erwischt
Das österreichische Bildungswesen wurde von Corona kalt erwischt, schreiben die Forscher, ein moderner, auf die Corona-Krise angepasster Unterricht werde, wenn überhaupt, nur durch motivierte Lehrer geboten. Ein digitaler Masterplan, der in der Vergangenheit immer wieder angekündigt wurde, sei „nicht zu sehen“. Gelehrt werde zwar nicht, vielmehr würden Schüler in verschiedenster Form zu Hause mit Lehrmaterialien versorgt, vereinzelt werde auch Unterstützung angeboten.
Doch unterm Strich sei das Angebot von Bundesland zu Bundesland, von Schule zu Schule und sogar von Lehrer zu Lehrer höchst unterschiedlich. Teils sei der Unterricht zum Erliegen gekommen, andernorts kämen die Schüler unter einer Fülle von Aufgaben kaum mehr zurecht.
Es sei klar, dass wir derzeit nur eine Notlösung für die Schulen hätten, denn eine Schule daheim könne nicht funktionieren, wenn auch die Eltern daheim arbeiten müssen.
Dennoch warnen die Forscher vor der aktuellen Situation. Zahlreiche Studien würden zeigen, dass in den Sommermonaten die Schüler gelernte Kompetenzen verlieren. Umso mehr, je bildungsferner die Familien sind.
Die aktuelle Situation sei mit den langen Sommerferien vergleichbar: Wo Bildung geachtet werde, würden Kinder auch profitieren. Kinder aus bildungsfernen Haushalten würden hingegen täglich zwei Stunden mehr vor dem Fernseher verbringen. Insgesamt würde die Lernzeit jedenfalls sinken, was besonders für leistungsschwache Schüler ein Problem darstelle.
Estland
Die Forscher erkundigten sich auch beim estnischen Bildungsministerium und konnten erfahren, dass man dort bereits vor fünf Jahren begonnen hatte, sämtliche Lehrinhalte an den Schulen zu digitalisieren. Heuer ist dieses roll-out fertig.
Bei den Niederländern werde ein starker Fokus auf integriertes Lernen gelegt, also auf die Kombination aus e-Learning mit Präsenzunterricht, während die Finnen weit fortgeschritten in der Digitalisierung von Lernunterlagen sind.
Was bei uns fehlt?
Forscher Lorenz und Köppl-Turyna legen in ihrer Studie eine lange Liste vor, wo es überall Aufholbedarf gebe:
- Alle Schüler müssten für die Digitalisierung gut ausgestattet sein.
- Die Pädagogen müssten die notwendigen Kompetenzen erwerben, für den Umgang mit den Endgeräten, den Lernprogrammen, den Plattformen und den pädagogischen Aspekten.
- Den Schulen sollte mehr Autonomie gewährt werden, damit sie sich bestens digitalisieren können.
- Schulbücher dürften nicht einfach digitalisierte PDFs seien, vielmehr müssten diese durch audiovisuelle Elemente verbessert werden. Mit Hilfe der Resultate könne über Algorithmen zusätzlicher Lerninhalt individuell bereitgestellt werden, so dass jeder Schüler in seinem Tempo verständlich die Inhalte vermittelt bekommt.
- Eltern müssten breit eingebunden werden, etwa über digitale Klassenbücher, über die sich Aufgaben, Lehrinhalte, Zeitpläne und Leistungsentwicklung der Schüler leicht von den Eltern mitverfolgen lassen würden. Und die Eltern bräuchten auch mehr Hilfestellung, man könne ja von ihnen nicht einfach verlangen, ohne pädagogische Ausbildung die Lehrkraft von zu Hause aus ersetze zu können.
Abschließendes Fazit: „Es wäre gut, wenn das österreichische Bildungsministerium schon gestern mit der Umsetzung dieser Beispiele aus anderen Ländern begonnen hätte. Statt darauf zu hoffen, dass Schüler und deren Eltern das schon irgendwie schaffen werden. Der nächste Lockdown sollte bildungstechnisch nämlich nicht mehr so ablaufen wie der aktuelle.“
Welche Vorteile ein perfekt abgestimmter digitaler Unterricht haben könnte, zeigen die Forscher zum Schluss nach am Beispiel der New Yorker „School of one“: An dieser Schule in Brooklyn wurde der Mathematikunterricht revolutioniert: Lehrinhalte wurden digital aufbereitet. Schüler könnten seither vielfältig lernen – durch Live-Unterricht, in einer Gruppenarbeit, mit einem Online-Tutor oder mit Lernvideos.
Am Ende des Tages erfolgt ein Online-Test. Die Ergebnisse würden nach Schulschluss von Experten und Algorithmen ausgewertet, um individuellen Lehrstoff für den kommenden Tag vorzubereiten. Und das Ergebnis sei beeindruckend: Vor Einführung des Projekts „School of One“ schnitt die Schule in Vergleichstests unterdurchschnittlich ab. Drei Jahre später war davon keine Rede mehr: Schüler lernten fast 50 % mehr im Jahr als in vergleichbaren Schulen.