Politik/Inland

Flüchtlinge aus Türkei: Europa in höchster Alarmstimmung

Tränengas, fliegende Steine, Menschen, die verzweifelt an Zäunen rütteln, heftige Zusammenstöße zwischen Flüchtlingen und Grenzbeamten. Diese jüngsten Bilder an den Außengrenzen Europas schüren Erinnerungen an das Flüchtlingsjahr 2015. Und sie wecken Sorgen – vor einer neuen großen Flüchtlingszahl, die in die EU drängt. Immer wieder hat der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan den Europäern gedroht – jetzt schickt er Tausende syrische Flüchtlinge mit Bussen und Taxis zur Grenze mit dem Nachbarn Griechenland.

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Am türkisch-griechischen Grenzübergang Pazarkule/ Kastanies spielten sich am Samstag dramatische Szenen ab. Ein paar tausend Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, drängten sich im Niemandsland zwischen den beiden Staaten. Steine werfende Flüchtlinge und die griechische Grenzpolizei sowie Sondereinheiten gerieten aneinander. Tränengas und Blendgranaten flogen. Damit wurde ein Durchbruch von großen Gruppen verhindert.

„Wir haben gehalten“

66 Menschen, die es dennoch auf griechisches Territorium geschafft hatten, wurden festgenommen. Mehr als 4.000 illegale Grenzüberschreitungen sind nach Angaben von Regierungssprecher Stelios Petsas abgewendet worden. „Wir haben gehalten, und unsere Grenzen, die auch EU-Grenzen sind, beschützt“, betonte Petsas nach einer Krisensitzung der Regierung in Athen. Griechenland werde „alles tun, um seine Grenzen und damit Europa zu sichern“. Polizei und Armee verstärken die Landgrenzen. Auch die Küstenwache wurde verstärkt.


"2015 darf sich keinesfalls wiederholen"

Aber in ganz Europa sind die Regierungen alarmiert. Auch Bundeskanzler Sebastian Kurz warnte eindringlich: „Eine Situation wie 2015 darf sich keinesfalls wiederholen. Unser Ziel muss es sein, die EU-Außengrenzen ordentlich zu schützen, illegale Migranten dort zu stoppen und nicht weiterzuwinken“, sagte der Bundeskanzler. „Wenn der Schutz der EU-Außengrenzen nicht gelingen sollte, dann wird Österreich seine Grenzen schützen.“

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Die europäische Grenzschutzagentur Frontex bezeichnet die Lage als „besorgniserregend“. Sie steht mit den Regierungen in Athen und Sofia in Kontakt, um bei Bedarf so rasch wie möglich Verstärkung zu schicken. Die Hälfte der verfügbaren Frontex-Mannschaft war am Samstag in der Region im Einsatz: Rund 30 Frontex-Beamte waren in der betroffenen Evros-Region stationiert, 380 auf den griechischen Inseln; weitere 70 in Bulgarien.

Unverändert stark bleibt indessen auch der Zustrom der Flüchtlinge auf die griechischen Inseln. Seit Anfang des Jahres sind bereits 6.000 Migranten auf die ohnehin längst überfüllten und überforderten griechischen Ägäisinseln übergesetzt.

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Europa schaut dem Drama seit Jahren zu. In Athen ist die Sorge groß, dass die EU Griechenland mit einer neuen Flüchtlingswelle, die Erdoğan jetzt lostritt, allein lässt. Niemand weiß, wie stark der Migrationsdruck aus der Türkei noch werden wird. Griechische Medien zitieren Schätzungen, wonach sich in den nächsten Tagen etwa 120.000 Migranten in der Westtürkei auf den Weg zur Grenze machen könnten.

In Istanbul starteten am Samstag laufend neue Reisebusse zur etwa 250 Kilometer entfernten griechischen Landgrenze. „Griechenland wird keine illegalen Einreisen tolerieren. Wir verstärken unseren Grenzschutz“, twitterte Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis. Und: Griechenland habe mit dem Krieg in Syrien nichts zu tun und werde nicht den Preis dafür bezahlen.

Vorwürfe an Europa

Präsident Erdoğan sieht das anders – und er erhöht den Druck. „Wir haben die Tore geöffnet und 18.000 sind heute durch diese Tore schon gegangen.“ Und: „Wir werden die Türen in nächster Zeit nicht schließen, und das wird so weitergehen.“ Als Grund nannte Erdoğan, die EU habe sich nicht an die Zusagen des Flüchtlingsdeals mit der Türkei gehalten, die 3,6 Millionen Syrer aufgenommen hat. Das Geld fließe zu langsam. Die EU aber hält entgegen: Von den versprochenen sechs Milliarden Euro wurden bisher rund 4,7 für die Versorgung, Unterbringung, medizinische Betreuung, Schulen und Lehrer aufgewendet.

Doch in der umkämpften nordsyrischen Provinz Idlib sind bis zu einer Million Menschen auf der Flucht vor den syrischen Truppen und den russischen Luftangriffen. An den Grenzwällen zur Türkei ist vorerst für sie Schluss. Die Frage ist nun, ob Erdoğan dem Druck nachgibt und die Grenzen für sie öffnet – um sie dann weiter in Richtung EU zu schleusen. Diese Angst geht in Europa um.