Kanzlerreden live im TV - als sogar Van der Bellen wütend wurde
Von Richard Grasl
Bundeskanzler Sebastian Kurz wird also heute eine Rede zur Nation halten, zum 75. Gründungstag der Zweiten Republik. Um 11 Uhr live aus seinem Büro, dem holzvertäfelten Kreisky-Zimmer im Bundeskanzleramt. Und ORF 2 wird die Rede live übertragen. So weit so gut. Doch blicken wir heute zu Beginn dieser Woche - es ist die siebente seit Beginn der Ausgangsbeschränkungen - 15 Jahre zurück. Im Mai 2005 hielt Bundeskanzler Wolfgang Schüssel eine TV-Ansprache zum 50. Jubiläum des Staatsvertrags. Gegen alle Usancen wurde die Rede auch damals vom ORF übertragen - damals waren Monika Lindner und der berüchtigte Chefredakteur Werner Mück an der Spitze. Es hagelte geharnischte Kritik von allen Seiten: Alle politischen Parteien (außer die ÖVP natürlich) kritisierten die Entscheidungen, Stiftungsräte, Redakteursräte des ORF empörten sich öffentlich, der Stiftungsrat kam zu einer Sondersitzung zusammen, die Grünen brachten später sogar eine Klage ein. Denn eine Live-Rede im ORF - das war natürlich nur dem Bundespräsidenten vorbehalten, und das war damals Heinz Fischer.
Und jetzt wird es besonders lustig. Wie in der Austria Presse Agentur vom 11. Mai 2005 nachzulesen ist ereignete sich auch folgendes: "Grünen-Chef Alexander Van der Bellen sorgte für Aufsehen, als er im Parlament vor laufenden Kameras die Nachrichten- und Informationssendungen des ORF wegen ihrer ÖVP-Nähe kritisierte. Der Grüne ORF-Stiftungsrat Pius Strobl sah eine "Schamgrenze überschritten" und will dies in einer Sondersitzung des obersten ORF-Aufsichtsgremiums erörtern. Strobl begehrte daher in einem Offenen Brief an die ORF-Spitze Auskunft darüber, wie diese "Werbe- und Propaganda-Sendung für den ÖVP-Parteiobmann" zu Stande gekommen sei."
Alles anders heute? Alexander Van der Bellen sitzt in der Hofburg, Pius Strobl ist der zweitmächtigste Mann im ORF nach Alexander Wrabetz. Diesmal wird er daher bei seinem Chef nicht um Auskunft bitten. Und Aufregung? Gibt es keine, obwohl Wolfgang Schüssel damals nur vier Minuten parlieren durfte, für Sebastian Kurz aber heute 15 Minuten angesetzt sind. Fast viermal so viel also, inklusive einem kurzen feierlichen Musikstück.
Natürlich macht Corona vieles anders - und Kurz wird heute klarerweise den Bogen von der Corona-Kreise zu den schwierigen Nachkriegsjahren 1945 spannen. Ich wette mal, dass das Wort "Wiederaufbau" vorkommen wird. Und natürlich ist eine Live-Übertragung heute kein Hokus-Pokus mehr, war es 2005 aber auch schon nicht. Würde der ORF nicht übertragen, alle anderen Sender würden das tun. Im Internet wird sowieso gestreamt.
Dennoch zeigt sich, dass auch der ORF und seine Stakeholder angesichts von Corona dem Regierungschef mehr Plattform geben als zu anderen Zeiten. Ein Thema, das übrigens alle Medien befasst. Die Balance zwischen der notwendigen Fakten-Berichterstattung aus erster Hand und notwendiger Kritik an der Regierung ist tägliches Thema der Redaktionskonferenz. (Ob die Rede von Pamela Rendi-Wagner am 5. Mai zur Präsentation der internen Parteiumfrage im ORF auch live übertragen wird, stand bei Redaktionsschluss noch nicht fest.)
Interessantere Themen am Dienstag
Auch wenn Kurz heute seine Ziele für das Land in einem "big picture" beschreiben wird, so ist die morgige Pressekonferenz für die aktuelle Situation und die meisten von uns ohnehin viel wichtiger. Wie geht es nach der Öffnung der Geschäfte und dem baldigen Restart der Schulen eigentlich mit den Ausgangsbeschränkungen weiter? Denn bisher gilt ja der Satz, dass es nur vier Gründe für das Ausgehen gebe: Arbeiten, Einkaufen, Helfen, Füße vertreten. Passt natürlich mit Restaurantöffnungen nicht mehr zusammen, und eigentlich hatte man in den letzten Tagen ohnehin das Gefühl, dass es viele schon nicht mehr ganz so genau nehmen. Also wird es hier Lockerungen geben. Großveranstaltungen bleiben ohnehin verboten. Spannend ist daher die Frage, wie groß die Gruppen sein dürfen, in denen man sich dann treffen darf. Welche Regeln gelten dafür (Maskenpflicht)? Gilt in Wohnungen auch die Regel von 20 Quadratmetern pro Besucher, dann ist Home-Partying ohnehin nur in gehobeneren Schichten mit großen Häusern und Wohnungen möglich.
Ein spannendes Detail hat der Standard heute schon herausgefunden. Es wird keine indirekte App-Pflicht geben. Heißt: Dass nur jene Personen Treffen besuchen könnten, die eine Corona-App haben, kommt nicht. Die Grünen hatten das zuvor schon abgelehnt. Und auch eine stärkere Isolation älterer und vorerkrankter Personen soll nicht kommen.