Fast alle Stimmen ausgezählt: Erdoğan gewinnt Stichwahl
Kurz vor 23 Uhr Ortszeit (22 Uhr MEZ) war es offiziell: Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan gewinnt laut Wahlbehörde mit 52,1 Prozent der Stimmen die Stichwahl. Sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu komme demnach auf 47,9 Prozent.
Auf dasselbe Ergebnis kommt die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu nach einer Öffnung von 99,8 Prozent der Urnen, genauso wie die oppositionsnahe Agentur Anka. Zu Beginn der Auszählung hatten die Agenturen noch große Unterschiede verzeichnet.
Erdoğan hat sich am Abend auf dem Dach eines Busses in Istanbul bereits zum Sieger erklärt: "Wir haben die Stichwahlen erfolgreich abgeschlossen. Ich danke meinem Volk", so Erdoğan, während die Auszählung allerdings noch nicht abgeschlossen war. "Ich danke jedem Bürger, der seinen Willen an der Wahlurne zum Ausdruck gebracht hat. Ich danke allen Mitgliedern meiner Partei. Ich werde Ihr Vertrauen verdienen, so wie ich es in der Vergangenheit getan habe."
➤ Mehr lesen: Reportage: Scham und Freude im Istanbuler Regen
Die Menge skandierte "Bye, bye Kemal" und verhöhnte damit Oppositionskandidaten Kılıçdaroğlu. Erdogan fügte dem ein weiteres "Bye" hinzu: "Tschüss, tschüss, tschüss Kemal". Später am Abend soll er vor dem Präsidentenpalast in Ankara eine Rede halten.
"Ungerechteste Wahl" in der Geschichte
Auch Kılçdaroğlu meldete sich bereits in der CHP-Hauptzentrale in Ankara zu Wort: "Ich habe eine Bitte an euch: Lasst euch nicht unterkriegen. Ich danke allen Wahlhelfern für ihren Einsatz. In dieser Wahl hat sich gezeigt, dass sich das türkische Volk nicht autoritär regieren lassen will. Bis wir eine wirkliche Demokratie haben, wird dieser Kampf weitergehen. Wir werden noch weitere schwere Tage erleben, aber wir werden da sein." Die Wahl nannte er die "ungerechteste" in der türkischen Geschichte
➤ Mehr lesen: Kommentar: Türkei-Wahl: Waren wir naiv? Nein, realistisch!
Falscher Oppositionskandidat
Der Direktor vom Österreichisches Institut für Internationale Politik (oiip) Cengiz Günay analysiert das Ergebnis auf Twitter. Die Wahlen seien vorbei, schreibt er. Er hält Kılıçdaroğlu nicht für den stärksten Oppositionskandidaten. Dennoch sei sein Ergebnis von 48 Prozent der Stimmen beachtlich, weil "die Opposition nicht mit den gleichen Voraussetzungen in den Wahlkampf gehen konnte, wie die Regierungspartei und Erdoğan staatliche Reserven ausgenutzt hat."
Weitere fünf Jahre mit Erdoğan an der Spitze der Türkei sei nicht gut für die Demokratie und den sozialen Frieden im Land, schreibt Günay weiter. Aber Erdoğan sei auch geschwächt, er abe an Rückhalt verloren, so der Politikwissenschaftler.
Die Wahlbeteiligung lag bei der Stichwahl laut Anadolu bei 84,4 Prozent. Im ersten Durchgang lag sie bei 88 Prozent. In Österreich zeichnete sich den Zahlen von Anadolu zufolge wie schon bei der ersten Runde ein deutlicher Sieg Erdoğans ab: Nach knapp 75 Prozent der ausgezählten Stimmen votierten fast 73 Prozent der hier lebenden Türken für den Präsidenten.
➤ Mehr lesen: Türkei-Stichwahl: Wahlbeteiligung niedriger als in erster Runde
Auszählung beginnt in Erdoğan-Hochburgen
Das Auszählsystem in der Türkei ist anders als in Österreich oder in Deutschland. Traditionell wurden zuerst AKP- und Erdoğan-Hochburgen ausgezählt, aus taktischen Gründen, um die Stimmung im Land zu beeinflussen. Bis Mitternacht könnten die Stimmen fertig ausgezählt sein.
Opposition in Istanbul und Ankara nur knapp vorne
Die Großstädte der Türkei sind so gespalten wie das Land selbst: Anadolu zufolge dürfte Erdoğan in Istanbul 48,7, Kılıçdaroğlu 51,4 Prozent geholt haben. In Ankara kommt Erdoğan auf 49,6 zu 50,4 Prozent für Kılıçdaroğlu. In den Küstenstädten Izmir und Antalya liegt die Opposition deutlicher vorne (66,8 und 57,2 Prozent). Die Opposition ist traditionell stark in den Provinzen entlang der Mittelmeerküste. Erdoğan hingegen dominiert wie schon in den vergangenen Wahlen Zentralanatolien.
Glückwünsche aus Katar und Ungarn
Tamim bin Hamad Al Thani, der Emir von Katar, hatte Erdoğan bereits öffentlich zum Wahlsieg gratuliert, als die endgültigen Ergebnisse noch gar nicht feststanden: "Mein lieber Bruder Recep Tayyip Erdoğan, ich gratuliere dir zu deinem Sieg und wünsche dir viel Erfolg in deiner neuen Amtszeit und dass du in ihr das erreichst, was das brüderliche türkische Volk in Bezug auf Fortschritt und Wohlstand anstrebt, und dass die starken Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern sich weiter entwickeln und wachsen", twitterte Tamim, einer der engsten internationalen Verbündeten Erdoğans.
Auch vom ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, dem somalischen und libyschen Regierungschefs und von Irans Präsident Ebrahim Raisi gab es die ersten Glückwünsche:
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hängte sich an: "Frankreich und die Türkei stehen vor großen Herausforderungen, die sie gemeinsam bewältigen müssen." Es gehe um die Rückkehr des Friedens nach Europa und die "Zukunft unseres euroatlantischen Bündnisses", also der NATO. Mit Erdoğan "werden wir weiter voranschreiten". Auch Ex-Präsident Donald Trump schickte Glückwünsche, genauso wie der russische Präsident Wladimir Putin. Erdoğans Wahlsieg sei ein “natürliches Resultat seiner selbstlosen Arbeit als Staatsoberhaupt der Türkei“, so Putin. Er sei auch ein klares Zeichen dafür, dass das türkische Volk hinter Erdoğans "unabhängigen Außenpolitik" stehe. Russland schätze seinen "persönlichen Beitrag für die russisch-türkischen" Beziehungen.
Kurden dürften daheim geblieben sein
Kılıçdaroğlus sich abzeichnende Niederlage könnte zum Teil seinem harten Nationalismus, den er in den letzten zwei Wochen angeschlagen hatte, geschuldet sein, analysiert das Nachrichtenmedium Middle East Eye: Die kurdisch dominierten Gebiete der Türkei verzeichneten einen starken Rückgang in der Wahlbeteiligung, von 81,7 Prozent vor zwei Wochen auf 75,74 Prozent heute.
Der Oppositionskandidat hatte sich vor den Wahlen stillschweigend mit der prokurdischen HDP verbündet, die ihn von außerhalb seiner Sechser-Koalition unterstützte. Vor der Stichwahl gewann Kılıçdaroğlu die Unterstützung der ultranationalistischen, kurdenfeindlichen Zafer Partisi. Das dürfte einige kurdische Wähler und Wählerinnen abgeschreckt haben, so Middle East Eye.