Nach von der Leyens Rede: Reicht das für den EU-Chefposten?
So viel Leidenschaft ist man von der sonst so beherrschten Ursula von der Leyen nicht gewohnt: "Wer Europa stärken und einen will", sagte die designierte Präsidentin der EU-Kommission am Vormittag im EU-Parlament in Straßburg, der finde in ihr eine entschlossene Mitstreiterin. "Wer aber Europa spalten und schwächen will, findet in mir eine erbitterte Gegnerin", versprach sie.
Es war die wichtigste Rede im Leben der 60-jährigen Deutschen, die die erste Frau an der Spitze der EU-Kommission werden will. Und es galt, all die Zweifler und Skeptiker im EU-Parlament zu überzeugen, dass sie die richtige Person ist, um die Kommission zu führen.
"Unsere Pflicht, auf See Leben zu retten"
Kein Wunder also, dass sie mit Zugeständnissen in Richtung nahezu aller Parteienfamilien aufwartete. So versprach sie ein CO2-neutrales Europa bis 2050 und kündigte gleich einen "Green Deal" während der ersten 100 Tage ihrer Amtszeit für Europa an. Die CDU-Politikerin setzte sich zudem für eine europäische Rückversicherung für die nationalen Arbeitslosenversicherungen in der EU sowie national definierte Mindestlöhne ein.
Die Erasmus-Förderung für den Austausch von Studenten und Auszubildenden will sie verdreifachen. Die Einführung von größerer Steuergerechtigkeit gegenüber den IT-Giganten forderte von der Leyen ebenso ein wie das Ende der Einstimmigkeit in der EU-Außenpolitik.
Heftigen Applaus erntete die deutsche Ministerin, die abwechselnd auf deutsch, englisch und französisch sprach, als sie in Bezug auf die Seenotrettung forderte: "Es ist unsere Pflicht, auf See Leben zu retten." Aber auch stärkeren Grenzschutz verlangte sie ebenso wie mehr Solidarität in der europäischen Flüchtlingsfrage.
Vage Forderungen
Vieles, was Ursula von der Leyen forderte, blieb vage. Viele Anforderungen und Konzepte, wie die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems, liegt seit Jahren auf dem Tisch. Fast immer aber scheitern diese Pläne am Veto der nationalen Regierungen, und so geschah es auch bisher beim Ziel, Europa bis Jahr 2050 klimaneutral zu machen.
Von der Leyen versprach aber genau das, ebenso wie die Senkung der Treibhausgase um 55 Prozent bis zum Jahr 2030 – was angesichts des Widerstandes so mancher EU-Staaten höchst illusorisch scheint.
Doch den Wahrheitsbeweis musste von der Leyen mit ihrer Rede ja nicht antreten, sondern die nötigen Stimmen für eine Mehrheit finden. Heute Abend, wenn die Abstimmung im EU-Parlament über die Bühne geht, braucht sie 374 Stimmen. Und besonders die noch skeptischen Sozialdemokraten wollte sie an Bord holen.
Emotionaler Konter gegen Farage
Zum Brexit sagte von der Leyen, dass man die Entscheidung Großbritanniens bedauere, aber respektiere. Kurzer Protest flammte es bei ihrer Erklärung, dass sie notfalls bereit wäre, das Austrittsdatum Großbritanniens am 31. Oktober erneut zu verschieben. Und emotionaler als sonst wurde sie, als sie auf einen Redebeitrag von Brexit-Fan Nigel Farrage reagierte. Der hatte zuvor aufgefordert, gegen die "Fanatikerin, die die Kontrolle über das Parlament ergreifen will" zu stimmen. Darauf konterte von der Leyen: "Auf Reden wie die Ihre können wir weiß Gott verzichten." Stürmischer Applaus war ihr damit sicher.
"Lang lebe Europa"
Vor allem aber hinterließ die zierliche, 1,61 Meter kleine Ministerin den Eindruck einer Kämpferin für Europa. Sie vermittelte die Leidenschaft, für ihre kommenden Herausforderungen als Kommissionschefin zu brennen. "Lang lebe Europa", rief sie am Ende ihrer halbstündigen Rede quer durch die kommenden Aufgaben der Kommission. Visionen ließ sie vermissen, bot aber Anhaltspunkte, welchen Weg die EU zu nehmen hat.
Eine gute Rede sei es gewesen, gestanden ihr letztlich auch die ablehnenden Grünen zu, doch wählen werden man sie nicht. Ob sich andere Parlamentarier von Ursula von der Leyens Rede umstimmen ließen, wird sich heute nach 18 Uhr zeigen.
Neos: Gamon "enttäuscht"
In Österreich werden neben den Grünen auch die FPÖ und die Neos von der Leyen definitiv ablehnen. Die SPÖ ist noch skeptisch. Die Neos-Europaabgeordnete Claudia Gamon fand die Rede von der Leyens zwar "gut". Gamon zeigte sich jedoch enttäuscht darüber, dass das Thema Abschaffung der Einstimmigkeit bei EU-Entscheidungen darin nicht angesprochen wurde.
"Wer die Systematik nicht ändern möchte, der wird auch viele wichtige Ideen nicht umsetzen können", sagte sie im Mittagsjournal. Auch wenn sie selbst gegen von der Leyen stimmen werde, wünsche sie ihr trotzdem, dass diese mit ihren Ideen Erfolg habe, so Gamon. Die liberale Fraktion (Renew Europe), zu der die Neos gehören, will für von der Leyen stimmen.