Joe Biden tritt als Präsidentschaftskandidat zurück - und empfiehlt Kamala Harris
Von Dirk Hautkapp
Evan Osnos, einer der kundigsten „Bidenianer“ im politischen Washington, hatte die Fährte schon Ende vergangener Woche ausgelegt.
Wenn Joe Biden doch noch von der Kandidatur zurücktreten würde, erklärte sein Biograf, dann weil ihn sein Leben gelehrt habe, wie wie man aus „pain“ (Schmerz) „purpose“ (Sinn und Zweck) macht. Eine Anspielung auf die Tragödie, als Biden Anfang der 70er Jahre seine erste Ehefrau Neilia und Tochter Naomi bei einem Unfall verlor und, wie er später eingestand, kurzzeitig daran dachte, selbst aus dem Leben zu scheiden.
Erstmals seit 1968
Stattdessen riss sich Biden zusammen, war seinen schwer verletzten Söhnen Beau und Hunter ein guter Vater und warf sich mit Wucht in die Politik, „um das Leben meiner Landsleute besser zu machen. 50 Jahre später verabschiedet sich Biden aus eben dieser Politik, rabiat, unwiderruflich und sensationell, aus ähnlichen Motiven.
„Es war die größte Ehre meines Lebens, als Ihr Präsident zu dienen“, schrieb er am Sonntag kurz nach Mittag auf seinen Social Media-Kanälen. „Auch wenn ich beabsichtigt hatte, mich um eine Wiederwahl zu bewerben, glaube ich, dass es im besten Interesse meiner Partei und des Landes ist, zurückzutreten und mich allein auf die Erfüllung meiner Pflichten als Präsident in meiner verbleibenden Amtszeit zu konzentrieren.“
Biden stellt – nach dem altersbedingten Debakel im TV-Duell gegen Donald Trump – das Wohl des Landes und der Partei über die eigenen Ambitionen. Damit war die Bombe geplatzt, die seit Wochen tickte: Zum ersten Mal seit Lyndon B. Johnson (1968) verzichtet ein Präsident auf die Bewerbung zur Wiederwahl.
Warum, weshalb, wieso genau? Eine Ansprache an die Nation soll es in den nächsten Tagen geben, heißt es aus Bidens Umfeld. Dort sagt man: „Die Gründe liegen doch auf der Hand – unerbittlicher Druck zum Rückzug aus den eigenen Reihen, wo die Angst grassiert, dass der Präsident im November gegen Trump untergehen und die Demokraten im Kongress mit sich reißt“. Wann die Erkenntnis bei Biden gereift ist, dass fast alle Umfragen auf ein Waterloo hinweisen, das weiß es an diesem historischen 21. Juli niemand genau.
Noch am Sonntagmorgen hatte man verlauten lassen, der Präsident werde nach der Corona-Infektion wieder in den Wahlkampf zurückkehren. Ohnehin steht am Dienstag ein Besuch von Israels Premier Netanjahu an. First Lady Jill Biden, von manchen verdächtigt, ihren Mann gegen jeden Gegenwind im Rennen zu halten, begleitete den Schritt des 81-Jährigen auf X mit zwei pink leuchtenden Herzen.
Erleichterung
Bei den Demokraten herrschte überwiegend Erleichterung. In den vergangenen Tagen war das Klima zwischen Präsident und den Top-Funktionären im Kongress reichlich vergiftet. Jetzt sagt Senats-Mehrheitsführer Chuck Schumer: „Seine Entscheidung war natürlich nicht einfach, doch er hat erneut sein Land, seine Partei und unsere Zukunft an erste Stelle gesetzt. Joe, du zeigst heute, dass du ein echter Patriot und großer Amerikaner bist.“
Dass Biden sich, was die Empfehlung für seine mögliche Nachfolge angeht, auf Kamala Harris festgelegt hat, wirkt beinahe logisch. Seine Vize zu übergehen, die er eigenhändig 2020 ausgewählt hat, hätte die hoch emotionalisierte Partei „vollends zerrissen“, sagten Analysten in Washington in erste Stellungnahmen. Außerdem kann nur Harris auf die mit über 200 Millionen Dollar gefüllte Wahlkampfkasse Bidens zurückgreifen.
Ob die 59-Jährige, die sich seit Amtsantritt einen ambivalenten Ruf erworben hat, tatsächlich diejenige sein wird, die der Parteitag Mitte August statt Biden auf den Schild heben wird, ist aber noch nicht ausgemacht. Weitere Kandidaturen von jungen Gouverneuren sind denkbar. Wobei die immer wieder genannte Grechtchen Whitmer aus Michigan bereits abgelehnt hat; sie will mutmaßlich ihre Chancen für 2028 nicht verdüstern im Falle einer Niederlage der Demokraten in diesem November.
20 Jahre jünger
Dort wartet mit Donald Trump ein Kandidat, der nach dem Parteitag der Republikaner und einem glücklich überlebten Mordanschlag vor Kraft kaum laufen kann. Für Biden hat der 78-Jährige nur Lügen und Schmäh über: „Der korrupte Joe Biden war nicht in der Lage, für das Amt des Präsidenten zu kandidieren, und er ist sicherlich nicht in der Lage, das Amt zu bekleiden – und war es auch nie!“ Kamala Harris schließlich sei noch einfacher zu schlagen als Biden, sagte Trump, der die Demokratin in der Vergangenheit mehrfach rassistisch-sexistisch verunglimpft hat. Mit Bill und Hillary Clinton haben ihr aber die ersten Schwergewichte der Demokraten ihre Unterstützung zugesichert; dahinter steht viel Geld. Weitere Namen werden folgen.
Alle wissen: Harris ist fast 20 Jahre jünger als Trump. Sie würde im Falle eines Sieges als erste Frau und erste Afro-Amerikanerin mit jamaikanisch-indischen Wurzeln im November Geschichte für die Ewigkeit schreiben. Welche Dynamik diese einzigartige Perspektive auslösen kann - die nächsten Wochen werden es zeigen.