Politik/Ausland

Timoschenko wird zur Zentralfigur des Umsturzes

Erstaunlich, wie rasant politische Karrieren in Wendezeiten verlaufen können. Vor wenigen Tagen noch Teil einer an den Rand gedrängten politischen Opposition war Alexander Turtschinow am Samstag zum neuen Präsidenten des ukrainischen Parlaments gewählt worden. Am Tag darauf schickte ihn dieses die Karriereleiter noch ein Stück weiter hinauf. Als Staatspräsident soll der 49-Jährige den politischen Umbruch in der Ukraine vollziehen (seine Ansprache an die Nation: siehe unten). Bis Dienstag soll eine neue Regierung stehen, noch zuvor will man über den neuen Premier entscheiden. Mit Turtschinow übernimmt einer der engsten Verbündeten von Julia Timoschenko das Präsidentenamt. Die am Samstag aus der Haft entlassene Ex-Premierministerin, die sich gleich danach in Kiew von ihren Anhängern feiern ließ, wird damit wieder Zentralfigur im Machtgefüge der Ukraine.

Zwar ließ die 53-Jährige mitteilen, dass sie sich nicht an die Spitze der Regierung stellen wolle, eine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen, die für 25. Mai festgesetzt sind, hat sie aber schon in Aussicht gestellt.

Schon die ersten Reaktionen aus dem Ausland machen deutlich, wer nun wieder als tatsächliche Drahtzieherin im politischen Umbruch gilt. Angela Merkel griff sofort zum Telefon, um Timoschenko zu ihrer Freilassung zu gratulieren. Die deutsche Kanzlerin, so ließ es Timoschenkos Partei verlautbaren, halte die Ex-Regierungschefin für einen der wichtigsten Faktoren zur Stabilisierung der Ukraine.

Am Montag reist auch die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton in die Ukraine. Sie will dort Gespräche über Hilfe der EU bei der politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung des Landes führen.

US-Warnung an Moskau

Merkel nahm auch direkten Kontakt mit Russlands Präsident Putin auf. In einem Telefongespräch bestätigte auch der sein Interesse an Stabilisierung des Nachbarlandes. Man hoffe auf die rasche Einsetzung einer Übergangsregierung und setzt dabei auch auf Timoschenkos Einfluss. Die erfahrene Politikerin könne die Situation in Kiew beruhigen helfen, meinte ein einflussreicher Parlamentarier aus Putins Partei. Deutlich härter der Ton aus den USA. Die Nationale Sicherheitsberaterin Susan Rice warnte Russland davor, Truppen in die Ukraine zu entsenden.

Vorerst aber hat Moskau nur den Geldhahn zugedreht. Vereinbarte Kredite in Milliardenhöhe sollen erst ausbezahlt werden, wenn das Land wieder eine verlässliche Regierung habe.

Wo ist Janukowitsch?

Fallen gelassen hat Moskau auf jeden Fall seinen bisherigen engen Verbündeten, den über Nacht aus dem Amt geworfenen Präsidenten Janukowitsch. Dieser hatte noch am Samstag Kiew fluchtartig verlassen.

Sein jetziger Aufenthaltsort ist unbekannt und gibt Anlass zu wilden Gerüchten. Zwar hatte sich der Ex-Staatschef offiziell aus Charkiv in der Ostukraine in einem TV-Auftritt an seine Landsleute gewandt. Doch persönlich hat ihn in der Stadt offensichtlich niemand zu Gesicht bekommen, auch seine Parteifreunde nicht.

Laut Berichten des ukrainischen Grenzschutzes habe man Janukowitsch in der Stadt Donezk daran gehindert, in einem Privatjet in Richtung Ausland abzuheben – angeblich wollte er Russland ansteuern. Schließlich sei er in einer gepanzerten Limousine davongefahren. Er werde, so hatte es Janukowitsch zuvor im TV angekündigt, im Südosten des Landes umherreisen. Wo man aber in der Ukraine noch hinter dem gestürzten Präsidenten steht, ist ungewiss.

Vorerst gibt es nur vereinzelt politische Stimmen aus dem Osten des Landes, die vor einer Machtübernahme durch ukrainische Nationalisten warnen. Am lautesten wurden diese auf der traditionell russisch dominierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim, wo auch ein Teil der russischen Flotte stationiert ist. Dort weigern sich die Vertreter von Janukowitschs Partei, den ihrer Ansicht nach illegitimen Machtwechsel in Kiew anzuerkennen und denken laut über eine Abspaltung nach.

Selten ist die Europafahne wohl mit solcher Begeisterung geschwungen worden wie in den letzten Tagen auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew. Es war ja die enttäuschte Hoffnung auf ein Abkommen mit der EU, die vor wenigen Wochen die politische Krise auslöste, die jetzt die politischen Verhältnisse in der Ukraine endgültig auf den Kopf gestellt hat. Doch dieses sogenannte Partnerschaftsabkommen war wohl für viele Ukrainer mehr Anlass für EU-Fantasien als tatsächlich ein substanzielles Angebot an diesen größten Flächenstaat Europas.

Denn was in der blumigen Brüsseler Phraseologie "europäische Perspektive" genannt wird, ist in Wahrheit vor allem die Festlegung einer wohl ebenso unangenehmen wie unverrückbaren Tatsache: Die kriselnde EU hat weder Platz noch Interesse an einem Mitgliedsland namens Ukraine. Allein die bitteren Erfahrungen mit den jüngsten Beitrittsländern, Bulgarien, Rumänien und zuletzt Kroatien zeigen, dass die EU gar nicht in der Lage ist, die Hoffnungen der dortigen Menschen zu erfüllen: Ein besseres Leben für alle, nicht nur für eine kleine Oberschicht, sinnvolle und langfristige ausländische Investitionen, Förderung einer eigenständigen Industrie und Landwirtschaft. Europas Süden, in den Achtzigerjahren vor allem aus politischen Gründen in die EU integriert, steckt heute mit einer Jugendarbeitslosigkeit jenseits der 30 Prozent in einer Krise, deren schaurige langfristige Perspektiven noch gar nicht abzusehen sind. Wenn wir also heute mit großer Geste die Hoffnungen der Menschen in der Ukraine anstacheln, sollten wir als Erstes nüchtern überlegen, was wir ihnen tatsächlich bieten können, außer Bankfilialen, Tankstellen und ein paar hochanständige Ermahnungen aus Brüssel.

Die Ukraine steht nach den Worten von Übergangspräsident Alexander Turtschinow am Rande des Staatsbankrotts. "Die Ukraine ist dabei, in den Abgrund zu rutschen, sie befindet sich am Rande einer Zahlungsunfähigkeit", sagte Turtschinow am Sonntag in einer Ansprache an die Nation.

Bekenntnis zum Westen

Turtschinow kündigte zudem einen Westkurs der Ex-Sowjetrepublik an und betonte zugleich die Wichtigkeit der Beziehungen zum Nachbarn Russland. "Vorrang hat für uns, zum Kurs der Annäherung an Europa zurückzukehren", sagte Turtschinow am Sonntag. "Wir müssen in den Kreis der europäischen Länder zurückkehren."

Zugleich sagte der 49-Jährige, die Ukraine sei zu einem guten Verhältnis mit Russland bereit. Nötig sei aber, dass Moskau "die europäische Wahl der Ukraine anerkennt und berücksichtigt", betonte der Vertraute von Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko.

Turtschinow versprach demokratische Präsidentenwahlen am 25. Mai. Janukowitschs Anhänger rief er auf: "Betrachtet seinen persönlichen Sturz in einem blutigen Drama nicht als Niederlage! Er hat vor allem Euch betrogen, die an ihn geglaubt haben." Auch die Interessen der bisherigen Janukowitsch-Wähler würden geschützt werden, versprach er.

"Unsere erste Aufgabe ist es, die Konfrontation zu stoppen", sagte Turtschinow. Die künftige Regierung müsse zudem ein Abrutschen des fast bankrotten Landes in den wirtschaftlichen Abgrund aufhalten, mahnte er. Die Dutzenden Opfer, die bei den Protesten getötet worden waren, würdigte er als "Helden".

Sie posen, lachen und staunen. Im Anwesen des de facto gestürzten Präsidenten der Ukraine, Viktor Janukowitsch, nahe Kiew lacht eine Frau um die 40 laut auf. Sie steht im Zoo des Areals. Schafe, Ziegen, Rehe, Pfaue, Hühner und Strauße sind da unter anderem. "Das gesamte Parlament der Ukraine ist hier versammelt", sagt sie mit sich überschlagender Stimme.

Alle Inhalte anzeigen

Vor der Villa in dem 140 Hektar großen Anwesen posiert ein junger Mann neben der ukrainischen Fahne in Bodybuilder-Stellung, lässt sich von einem Freund fotografieren und ruft: "Sieg – all das gehört jetzt uns, dem ukrainischen Volk".

Kitsch und Oldtimer

Tausende pilgerten an diesem Sonntag nach Novi Petriwtsi, einen kleiner Ort im Norden der ukrainischen Hauptstadt, der in den vergangenen Monaten, während der Massenproteste in Kiew, zu einer Festung geworden war. Denn dort hinter Stacheldraht und hohen Mauern liegt die Residenz Janukowitschs – Mezhyhirya. Seit Langem war sie zum Symbol für den aufwendigen Lebensstil des Staatschefs geworden; für Korruption und Abgehobenheit. Das Land, auf dem sie steht, hatte sich einst in Staatsbesitz befunden, wurde zu einem Spottpreis an ein undurchsichtiges Firmenkonstrukt mit Verbindungen nach Wien veräußert, um danach vom ukrainischen Staat wieder teuer gepachtet zu werden. Die Mythen-umwobenen goldenen Kloschüsseln wurden in Mezhyhirya zwar nicht gefunden – dafür aber eine atemberaubende Ansammlung an Kitsch und Protz, ein Zoo, Orangerie und eine museumsträchtige Sammlung alter Autos. 500 Menschen hatten hier gearbeitet: Gärtner, Tierpfleger, Köche, Sicherheitspersonal. Nach der überhasteten Flucht Janukowitschs in der Nacht auf Samstag haben Einheiten der Protestbewegung das Kommando über Janukowitschs fein herausgeputztes Traumland übernommen. Die Tore der Residenz stehen der Bevölkerung offen.

Es ist ein Sonntagsspaziergang der besonderen Art. Und nach dem Schrecken überwiegt hier die Freude. Ein Kind auf den Schultern seines Vaters, der auf der Suche nach Mezhyhirya durch den Schlamm einer Seitenstraße watet, fragt: "Papa, was machen wir und die ganzen Menschen hier?" Die Antwort, begleitet von einem breiten Grinsen: "Wir schauen uns an, wie er gelebt hat."

Er spielt in all dem keine Rolle mehr. In Kiew ist man sicher, dass Janukowitsch Geschichte ist – auch wenn er formell noch nicht zurückgetreten ist. "Er hat allen Rückhalt verloren", sagt ein junger Mann. Auch im Osten, seiner eigentlichen Hochburg. Und die Bilder von Sauna, Privatkino oder barocken Empfangshallen aus seiner Residenz, die seien ein zusätzlicher Schlag. Denn das Geld, mit dem all das gebaut worden sei, sei das Geld aller Ukrainer. Und scherzhaft fügt er hinzu: "Wenn er das Geld wenigstens für stilvolle Dinge ausgegeben hätte."

In Kiew selbst kehrte am Sonntag wieder so etwas wie Normalität ein. Die Straßenpolizei ist zurück. Einheiten der Opposition patrouillieren durch die Stadt, bewachen Amtsgebäude, diplomatische Vertretungen und Kulturdenkmäler.

Die Gefahr gehe nur mehr von vereinzelten Schlägerbanden der gestürzten Regierung aus, so eine Wache an der Barrikade in der wochenlang schwer umkämpften Grushewskogo-Straße. Auf die Frage, worauf er achte und was verdächtig sei, sagt er: "Verdächtig ist jeder – vor allem, wer Russisch spricht."

"Idioten gibt es immer und es wird sie immer geben", sagt Tanja, eine junge Frau, selbst Russin, mit diesen Aussagen konfrontiert. "Viele Probleme und offene Fragen liegen vor uns – vor allem die Wirtschaftskrise und zu einem kleinen Teil auch kulturelle Unterschiede." Auf die Frage, was mit Mezhyhirya passieren soll, hat Tanya eine Antwort: "Man könnte daraus auch so etwas wie ein Museum des Kitsch oder schlechten Geschmacks machen."

Es war ihr großer Auftritt nach fast drei Jahren im Gefängnis. In der Nacht des neuerlichen Umsturzes trat Julia Timoschenko vor die Demonstranten auf dem Kiewer Maidan-Platz – im Rollstuhl wegen eines Rückenleidens. Sie begrüßte die Menschenmenge mit deren Schlachtruf: "Ehre der Ukraine" – und eroberte neuerlich die Herzen vieler Landsleute.

Auch die Geste davor war wohlkalkuliert: Ehe sie auf die Bühne gerollt wurde, hatte sie noch die Barrikaden aufgesucht und dort die "Helden des Aufstandes" geehrt.

Bekannt wurde die heute 53-Jährige im Zuge der "Orangen Revolution" 2004/2005. Mit Viktor Juschtschenko übernahm sie damals die Macht: Er wurde Präsident, sie Premierministerin, die aber bald ihre eigene Agenda verfolgte und sich mit Juschtschenko überwarf, der sie als "Füchsin" bezeichnete. Vorübergehend wollte sie gar eine Koalition mit dem jetzt geschassten Staatschef Viktor Janukowitsch.

Ihre politischen Volten und Alleingänge – dabei immer den eigenen Machtausbau im Blick habend – wurden ebenso zu ihrem Markenzeichen wie ihr geflochtener Zopf. So wurde sie noch zu Sowjetzeiten mit der Leitung des zweitgrößten Erdgaskonzerns der UdSSR betraut, was ihr den Namen "Gas-Prinzessin" eintrug – und ein Millionen-Vermögen.

2010 unterlag Timoschenko Janukowitsch bei der Präsidenten-Stichwahl. Dieser nahm ein Jahr später Rache an seiner On/Off-Rivalin und ließ sie in einem international heftig kritisierten Schauprozess zu sieben Jahren Haft wegen Amtsmissbrauchs im Zusammenhang mit Erdgasverträgen mit Russland inhaftieren.

Seit dem Wochenende ist die "Gas-Prinzessin" als Rache-Engel zurück auf der politischen Bühne der Ukraine.