Politik/Ausland

Ist Transnistrien Putins nächstes Ziel?

Was ist da bloß in Transnistrien los? Seit dort zwei Strommasten in die Luft flogen und Moskau Kiew bezichtigt, den Krieg in die pro-russische Separatistenregion in Moldau tragen zu wollen, wird über die Gefahr einer Ausweitung des Krieges gesprochen. Könnten pro-russische Kräfte von aus dort einschreiten, um gegen die Ukraine vorzugehen? 

Der Experte Marcel Röthig hält das für unwahrscheinlich. Weil es in der abtrünnigen moldauischen Region kein funktionierendes Flugfeld gebe, können die dortigen russischen Truppen nur das einsetzen, "was sie dort haben, und das ist 30 Jahre alt", sagte der Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kiew im APA-Interview. Das reiche nur, "um die Ukrainer zu stören", erwartet Röthig allenfalls ein "Strohfeuer".

Landbrücke "ausgeschlossen"

Ziel sei etwas anderes - und zwar die ukrainischen Streitkräfte vom Donbass abzuziehen. "Es geht darum, dass man ukrainische Kräfte im Süden bindet", sagte Röthig unter Verweis auf die "begrenzte Offensive" der Ukraine im Süden des Landes. Eine Bedrohung der strategisch wichtigen Hafenstadt Odessa sieht er nicht. Deren Einnahme durch die russische Armee und die Herstellung einer Landverbindung nach Transnistrien sei in der jetzigen Phase "ausgeschlossen". Vielmehr gebe es Anzeichen dafür, dass die russische Offensive bald zum Erliegen kommen könnte.

Allerdings befindet sich in Transnistrien auch das größte Munitionsdepot der Region. Es handle sich um rund 20.000 Tonnen Kriegsmaterial, das bei einer Explosion "das Potenzial einer Hiroshima-Bombe" hätte, sagte Röthig. Die ukrainische Armee müsste nur zwei Kilometer nach Transnistrien vorrücken, um es einzunehmen, doch würde sie damit die territoriale Integrität Moldaus verletzen und müsste 1.500 russische Soldaten schlagen. Dafür würde es "einiges an Tollkühnheit" benötigen.

"Nicht vorstellen" kann sich Röthig, dass die moldauische Regierung in einen Krieg in Transnistrien eingreifen würde. Er verwies diesbezüglich auf die äußerst schwache moldauische Armee. Auch die transnistrischen Truppen dürften nicht aktiv werden.

Was macht Rumänien?

Unklar sei, wie sich Rumänien bei einem Ausbruch von Feindseligkeiten im Nachbarland Moldau verhalten werde. "Wenn Moldau angegriffen wird, müsste Rumänien zur Tat streiten", sagte der Experte mit Blick auf die hunderttausenden Moldauer mit rumänischem Pass. Doch rechne man in Chisinau nicht damit, dass Rumänien Moldau beistehen werde, berichtete der FES-Experte von Gesprächen, die er vor wenigen Tagen in der moldauischen Hauptstadt führte. Auch im Ukraine-Krieg habe sich Bukarest bisher eher vorsichtig und passiv verhalten, weswegen ein Eingreifen "eher unwahrscheinlich" sei.

Allgemein rechnet Röthig damit, dass sich der Ukraine-Krieg in den nächsten Wochen zu einem Stellungskrieg entwickeln werde, "weil die russische Invasion zum Erliegen kommt". Im Osten komme die russische Armee nämlich nur langsam und unter "riesigen Verlusten" voran. Somit könnte es in der zweiten Mai-Hälfte wieder zu Verhandlungen und einem "Kalten Frieden" kommen. Nach der Zerstörung des russischen Flaggschiffs "Moskwa" sei eine maritime Landung unwahrscheinlich geworden, weil die russische Flotte im nordwestlichen Schwarzmeer keine Deckung mehr habe. Um die Landverbindung nach Transnistrien zu schaffen, müssten die Russen zudem mit Mykolajiw und Odessa zwei Großstädte einnehmen, "nachdem sie das schon in Mariupol nicht geschafft haben". Somit sei die Herstellung einer Landbrücke reines "Wunschdenken". "Dafür fehlen einfach die Mittel."

Schwere Waffen haben verzögerten Effekt

Röthig geht auch davon aus, dass die jüngst vereinbarten Lieferungen von schweren Waffen an die Ukraine erst mittel- und langfristig ihre Wirkung entfalten werden. Der Einsatz von US-Artillerie oder von deutschen Panzern ist nämlich erst nach mehrwöchigen Trainings möglich. "Für die laufende Offensive ist das nicht entscheidend", sagte er. Es gehe eher darum, die ukrainische Armee für spätere Aggressionen durch Kreml-Chef Wladimir Putin "hochzurüsten".

Die Ukrainer seien im Artilleriebereich unterlegen und hätten eine "Hit-and-run"-Strategie, würden also versuchen, den Invasoren durch schnelle Vorstöße Schläge hinzuzufügen. Zugleich hätten sie sich eingegraben, weswegen die russischen Truppen mitunter 14 oder 15 abgewehrte Angriffe in Kauf nehmen müssen, um dann letztlich erfolgreich zu sein.

Zum erwarteten "Paukenschlag" mit massiven Angriffen könnte es somit gar nicht mehr kommen. "Die Offensive ist voll im Gang, aber sie kommt nicht voran", betonte er. Was die Russen derzeit machten, sei kein Austesten von Schwachstellen mehr. Daher sei er überzeugt, dass auch dieser Vormarsch wie jener auf Kiew "scheitern" werde. Schon Mitte Mai dürfte die russische Offensive zum Erliegen kommen. Die Ukrainer wiederum hätten "keine Offensivkapazitäten". Ihr Ziel sei es, so lange wie möglich durchzuhalten. "Je mehr Verluste sie den Russen zufügen, umso besser ist ihre Verhandlungsposition." Zumindest in der jetzigen Phase sei es "illusorisch", die Russen "aus dem Land zu schmeißen".

Das Separatistengebiet Transnistrien ist für Moskau seit Jahrzehnten der Hebel, um Druck auf die kleine südwestliche Ex-Sowjetrepublik Moldau auszuüben. Prorussische Separatisten beherrschen einen schmalen Landstreifen zwischen dem Fluss Dnister und der Grenze zur Ukraine, der etwas größer als Luxemburg ist. Russland hat dort nach westlichen Schätzungen 1500 Soldaten.

Die mehrheitlich russische und ukrainische Bevölkerung in Transnistrien spaltete sich 1990 ab, als die Nationalbewegung der Moldau eine Vereinigung mit dem Nachbarn Rumänien anstrebte. In einem Krieg 1992 starben etwa 1000 Menschen. Seitdem ist der Konflikt eingefroren. Verhandlungen unter Beteiligung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) brachten noch keine endgültige Lösung.

Auf viele Besucher wirkt der nicht anerkannte Staat Transnistrien mit seiner Hauptstadt Tiraspol wie ein Museum der Sowjetunion. Das Gebiet mit einer halben Million Einwohner lebt vom Weiterverkauf russischer Energie und vom Schmuggel. Medien in Moskau berichten, dass mehr als 200 000 Menschen dort einen russischen Pass hätten.

Von den russischen Soldaten überwacht etwa ein Drittel als offizielle Friedenstruppe mit Kräften Transnistriens und Moldaus den geltenden Waffenstillstand. Die anderen Soldaten sichern ein riesiges Lager alter russischer Munition bei dem Dorf Cobasna. Transnistrien selbst hat etwa 5000 Mann unter Waffen.