Druck auf russische Truppen an Südfront steigt, Hafen Odessa von Raketen getroffen
Tag 150 im russischen Belagerungskrieg gegen die Ukraine:
An der Südfront in der Provinz Cherson geraten die russischen Truppen nach Angaben des britischen Geheimdienstes unter Druck. "Für die Nachschub-Linien der russischen Kräfte westlich des Flusses (Ingulets, ein Nebenfluss des Dnipro) steigt das Risiko", teilte das Verteidigungsministerium in einem Geheimdienstbericht mit. Die ukrainischen Kräfte würden ihre Offensive vorantreiben. Russland versuche mit Artillerie-Feuer den Vormarsch entlang des Ingulets aufzuhalten.
Der Ukraine sind demnach weitere Angriffe auf die Antoniwsky-Brücke über den Dnipro (Dnepr) gelungen. Die Brücke ist von zentraler Bedeutung für die Versorgung russischer Truppen westlich des Flusses. In den vergangenen 48 Stunden habe es schwere Gefechte in der Region gegeben.
Angriff auf Odessa
Einen Tag nach der Einigung auf eine Wiederaufnahme der blockierten Getreide-Lieferungen ist der für die Ausfuhr wichtige ukrainische Hafen von Odessa nach ukrainischen Angaben von russischen Raketen getroffen worden. "Der Feind hat den Hafen von Odessa mit Kalibr-Marschflugkörpern angegriffen. Zwei Raketen trafen die Infrastruktur des Hafens", erklärte Serhij Bratschuk, ein Vertreter der Region Odessa, in Online-Netzwerken am Samstag.Zwei weitere Raketen seien von der Luftabwehr abgeschossen worden, fügte Bratschuk hinzu.
Bei einem Raketenangriff im Gebiet Kirowohrad wurden ukrainischen Angaben zufolge mindestens drei Menschen getötet und neun weitere verletzt. Das russische Militär habe am Samstagfrüh von Kriegsschiffen und Kampfbombern insgesamt 13 Raketen unter anderem auf den Militärflughafen Kanatowo und ein Objekt der ukrainischen Eisenbahngesellschaft abgefeuert, teilte der Leiter der Militäradministration, Andrij Rajkowitsch, im Nachrichtenkanal Telegram mit.
Bei den Attacken seien ein Soldat sowie an einer Transformatorenstation zwei Arbeiter getötet worden, so Rajkowitsch. Er rief die Menschen auf, die Luftalarme nicht zu ignorieren und Schutz zu suchen. Bisher war das Gebiet im zentralen Teil der Ukraine vergleichsweise wenig betroffen von russischen Angriffen. Allerdings hatte das russische Verteidigungsministerium in der Vergangenheit selbst auch schon über Beschuss des Militärflughafens berichtet.
Auch aus anderen Teilen des Landes meldeten die ukrainischen Behörden ein Vielzahl von Explosionen. Das Gebiet Mykolajiw sei mit sechs Raketen angegriffen worden, hieß es. Im Gebiet Donezk wurde nach russischem Beschuss von neun Verletzten gesprochen. Überprüfbar von unabhängiger Seite waren diese Angaben nicht.
Nach Darstellung des ukrainischen Generalstabs schossen russische Panzertruppen in Richtung Kramatorsk im Gebiet Donezk. Insgesamt war von viel Artilleriebeschuss die Rede in dem Militär-Bericht, aber alles in allem von geringerer russischer Aktivität - stellenweise seien Angriffe des Feindes zurückgeschlagen worden, hieß es in Kiew.
In der Region Kirohwrad in der Zentralukraine haben 13 russische Raketen nach Angaben des örtlichen Gouverneurs Andrij Raikowytsch ein militärisches Flugfeld und Schienenwege getroffen. Demnach sind zwei Wachleute und ein Soldat getötet worden. Bei den Einschlägen in einer Umspann-Station seien außerdem neun Soldaten verletzt worden. Im Strom-Netz sei es zu Ausfällen gekommen. Ein Stadtteil von Kropywnytskyj werde nicht mehr versorgt. Rettungsdienste seien im Einsatz, teilte Raikowytsch über den Kurznachrichtendienst Telegram mit. Unterdessen verzögern sich die von der deutschen Bundesregierung zugesagten Waffenlieferungen nach einem Bericht der Welt am Sonntag offenbar deutlich.
Ukraine setzte Kamikaze-Drohne ein
Die ukrainische Armee hat nach eigenen Angaben Kampfdrohnen am von Russlands Armee besetzten Atomkraftwerk Enerhodar eingesetzt. "Mit Kamikaze-Drohnen wurde ein Angriff auf eine Zeltstadt und feindliche Technik ausgeführt", teilte der Militärgeheimdienst am Freitag in Kiew mit. Zerstört worden seien dabei Luftabwehr und ein Mehrfachraketenwerfer des Typs Grad (Hagel). Den Geheimdienstangaben zufolge sind drei Russen getötet und zwölf verletzt worden.
In einem dazu veröffentlichten Video sind Zelte und vor einer Explosion fliehende Menschen zu sehen. Zuvor hatte bereits die russische Besatzungsverwaltung des Gebiets Saporischschja über die Attacke rund 440 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Kiew berichtet. Demnach sollen elf Kraftwerksmitarbeiter verletzt worden sein, vier davon schwer. Die Angaben beider Seiten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
Die Ukraine wehrt seit knapp fünf Monaten eine russische Invasion ab. Das mit sechs Blöcken und einer Leistung von 6000 Megawatt größte Atomkraftwerk Europas wurde von der russischen Armee Anfang März erobert. Über die Hälfte der ukrainischen Elektroenergie wird aus Atomkraft erzeugt. Die Explosion eines Kraftwerksblocks 1986 im damals sowjetischen Kraftwerk Tschernobyl in der Nordukraine gilt als das größte Atomunglück der Geschichte.
Selenskij dankte für Waffen
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskji danke indes den USA für die angekündigten neuen Waffenlieferungen. "Extrem wichtig, schlagkräftige Waffen werden die Leben unserer Soldaten retten, die Befreiung unseres Landes vom russischen Aggressor beschleunigen", twitterte er am Samstag. "Ich schätze die strategische Partnerschaft zwischen unseren Nationen. Gemeinsam zum Sieg!" Die USA kündigten am Freitag weitere Waffenlieferungen an die Ukraine mit einem Wert von rund 270 Millionen Dollar an.
Wie eine aktuelle market-Umfrage im Auftrag der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik ergab, denken 42 Prozent der Österreicher, dass es durch den Ukraine-Krieg zu einem größeren Zusammengehörigkeitsgefühl in der EU kommen wird. Einen EU-Beitritt der Ukraine würden 23 Prozent der 500 Befragten begrüßen, 51 Prozent lehnen einen solchen jedoch ab, teilte die ÖGfE am Samstag mit.
Ukrainische Streitkräfte haben einem Medienbericht zufolge Freitagfrüh die von Russland kontrollierte Stadt Donezk angegriffen. Das meldete die staatseigene russische Nachrichtenagentur Tass unter Berufung auf die selbst ernannte Volksrepublik Donezk.
Den amtierenden Bürgermeister von Lyssytschansk in der Nachbarregion Luhansk, Andrej Skory, zitierte Tass mit den Worten, dass es in der Stadt Schwierigkeiten bei Lebensmittellieferungen gebe. Grund dafür sei, dass ukrainische Truppen beim Rückzug aus Lyssytschansk Brücken zerstört hätten.
Briten: Russland gehen die Bodenraketen aus
Russland gehen unterdessen nach Einschätzung des britischen Militärgeheimdienstes spezifische Bodenraketen aus. Deshalb würden verstärkt Luftabwehrraketen auch für Landangriffe eingesetzt, berichtet das britische Verteidigungsministerium unter Berufung auf seine Geheimdienste.
Da diese aber eigentlich für den Abschuss von Flugzeugen sowie Raketen gedacht seien, könnten sie am Boden ihre Ziele verfehlen. Deshalb seien sie insbesondere für Soldaten oder Zivilisten gefährlich. Bei massiven Gebäuden hätten sie kaum Schlagkraft.
"Es gibt eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass diese Waffen ihre anvisierten Ziele verfehlen und zivile Opfer verursachen, weil sie nicht optimiert sind für diesen Zweck", hieß es in der Mitteilung. Zudem sei das Personal, das die Raketen abschieße, nicht ausreichend geschult.
Die Sanktionen des Westens lassen gewisse spezialisierte Bauteile für Rüstungsgüter in Russland ausgehen.
Geht den Russen die Luft aus?
Das russische Militär wird in den kommenden Wochen britischen Geheimdiensten zufolge wahrscheinlich eine Art Einsatzpause in der Ukraine einlegen. Damit bekomme die Ukraine eine Gelegenheit zum Gegenschlag, sagt MI6-Chef Richard Moore.
Denn bislang seien konservativen Schätzungen zufolge etwa 15.000 russische Soldaten im Krieg in der Ukraine getötet worden. Es werde für das russische Militär in den nächsten Wochen immer schwerer werden, Personal und Material zu bekommen. „Ich glaube, dass ihnen bald die Luft ausgeht“, so Moore.
Lösung im Getreidestreit in Sicht
Entkommen die Welt, und vor allem der globale Süden doch einer Hungerkatastrophe? Ein Abkommen über den Export von Weizen aus der Ukraine über das Schwarze Meer soll nach monatelangen Streitereien heute in der Türkei unterzeichnet werden.
Millionen Tonnen
Die Ausfuhr von Millionen Tonnen Getreide aus dem Kriegsland Ukraine soll von den Konfliktparteien unter UNO-Führung gemeinsam überwacht werden. Es wäre das Ende der russischen Blockade im Schwarzen Meer. Die Einigung, die am Freitag unterschrieben werden soll, sieht ein gemeinsames Kontrollzentrum in Istanbul vor, das von der UNO geleitet und mit Vertretern Russlands, der Ukraine und der Türkei besetzt sein soll.
Humanitärer Korridor
Das angestrebte Abkommen zu den ukrainischen Getreidelieferungen sieht vor, das in dem Kontrollzentrum in Istanbul auch die genauen Koordinaten für den humanitären Korridor auf dem Seeweg zwischen der Ukraine und dem Bosporus festgelegt werden.
Zudem einigten sich die Parteien darauf, dass Schiffe mit dem Ziel Ukraine zunächst in Istanbul durchsucht werden, um sicherzustellen, dass sie keine Waffen oder Ähnliches geladen haben.
Medwedew: "Ukraine könnte von der Weltkarte verschwinden"
Fünf Monate nach Kriegsbeginn haben führende russische Politiker einmal mehr das Fortbestehen der Ukraine als souveränen Staat infrage gestellt. Dmitri Medwedew, Ex-Präsident und jetziger Vizechef des russischen Sicherheitsrates, veröffentlichte am Donnerstag eine Liste von Dingen, "an denen Russland nicht schuld ist". Ein Punkt lautet: "Daran, dass die Ukraine infolge aller Geschehnisse die Reste staatlicher Souveränität verlieren und von der Weltkarte verschwinden könnte."
Das Nachbarland habe bereits 2014 den Großteil seiner Souveränität eingebüßt, als es sich unter die "direkte Kontrolle des kollektiven Westens" begeben habe, behauptete Medwedew, der zwischen 2008 und 2012 Präsident war. Der 56-Jährige ist ein enger Vertrauter von Kremlchef Wladimir Putin und seit Russlands Einmarsch in die Ukraine Ende Februar immer wieder mit Drohungen und scharfen Äußerungen gegen die Führung in Kiew aufgefallen.
"Russland ist auf Krieg und Terror konzentriert"
Das Ziel des russischen Aggressionskrieges in der Ukraine ist laut Außenminister Sergej Lawrow nicht mehr auf die Eroberung des Donbass´ begrenzt. Sie beträfen bereits eine Reihe anderer Gebiete, sagte er am Mittwoch der russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti zufolge.
"Jetzt ist die Geografie anders. Es handelt sich nicht nur um die DNR und die LNR (Donezk und Luhansk, Anm.), sondern auch um die Region Cherson, die Region Saporischschja und eine Reihe anderer Gebiete, und dieser Prozess geht weiter, und zwar konsequent und beharrlich", so Lawrow.
Sollte der Westen Langstreckenwaffen an Kiew liefern, würden die geografischen Ziele in der Ukraine noch mehr ausgeweitet. Die politischen Ziele - "Entnazifizierung" und "Entmilitarisierung" - seien unverändert.
Friedensverhandlungen erteilte Lawrow eine Absage. Eine Wiederaufnahme von Gesprächen mit der Ukraine ergebe im Moment keinen Sinn, sagte Lawrow.
Lawrows ukrainischer Amtskollege Dmytro Kuleba reagierte scharf. "Russland verwirft die Diplomatie und ist auf Krieg und Terror konzentriert", schrieb er auf Twitter.
CIA: 15.000 russische Soldaten gefallen
Nach Schätzungen des US-Auslandsgeheimdienstes CIA sind im Krieg gegen die Ukraine auf russischer Seite bereits 15.000 Menschen ums Leben gekommen. Etwa dreimal so viele Russen seien bislang vermutlich verwundet worden, sagte CIA-Direktor William Burns bei einer Podiumsdiskussion. „Und auch die Ukrainer haben gelitten - wahrscheinlich etwas weniger. Aber, Sie wissen schon, erhebliche Verluste“, sagte Burns. Aktuelle Angaben der offiziellen Stellen in Russland zu Totenzahlen gibt es nicht.
Burns sagte, die Ballung der russischen Streitkräfte im Donbass deute zumindest im Moment darauf hin, dass das russische Militär aus den Fehlschlägen zu Beginn des nun schon seit fast fünf Monaten anhaltenden Krieges gelernt habe. „In gewisser Weise ist das russische Militär in eine komfortablere Lage zurückgewichen - indem es seinen Vorsprung und seine Feuerkraft über große Entfernungen nutzte, um die ukrainischen Ziele auf Distanz zu halten und effektiv zu zerstören und um die Schwachstellen beim Militär, die sie immer noch haben, zu kompensieren.“
Putin will Donbass wiederaufbauen
Kremlchef Wladimir Putin kündigte unterdessen den Wiederaufbau von Städten im Donbass an, die durch den von ihm angeordneten Krieg überhaupt erst zerstört wurden. "Deshalb wird unser Land der Volksrepublik Luhansk und der Volksrepublik Donezk helfen", sagte er bei einer Videokonferenz mit Kindern und Jugendlichen.
Moskau stellt sich immer wieder als Schutzmacht der selbst ernannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk im Osten der Ukraine dar und rechtfertigt den Angriff auf das Nachbarland unter anderem mit dem angeblichen Schutz der dort lebenden Menschen.