Politik/Ausland

„Sie sind ein Menschenfeind“: Halle-Attentäter zu lebenslanger Haft verurteilt

„Dieses Verfahren stellt alles in den Schatten“, sagt Richterin Ursula Mertens bei der Urteilsverkündung. Sie kämpft mit den Tränen und wendet sich an den Angeklagten: „Sie sind antisemitisch, ausländerfeindlich. Sie sind ein Menschenfeind.“

Nach vier Monaten endete am Montag in Magdeburg der Prozess um das Attentat vom 9. Oktober 2019: An diesem Tag versuchte ein 28 Jahre alter Mann die Synagoge in Halle an der Saale zu stürmen. Mehr als 50 Menschen waren zu diesem Zeitpunkt gerade beim Gebet versammelt – zu Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag. Die Attacke, die er mit Helmkamera live ins Internet übertrug, misslang. Aus Frust tötete er andere: eine Passantin, die ihn auf der Straße ansprach, und danach einen Lehrling, der in einem Dönerimbiss zu mittag aß. Er hielt ihn für einen Muslim, gab er später zu Protokoll.

Von Reue oder Einsicht war weder hier noch im Gerichtssaal etwas zu bemerken. Ganz im Gegenteil. Der Angeklagte schwadronierte vom „großen Austausch“ und verhöhnte bei jeder Gelegenheit die Nebenkläger – 45 waren im Prozess vertreten. Sein Schlussplädoyer nutzte er für ein Statement voller Hass, die Richterin musste ihn stoppen. Nach der Urteilsverkündung warf er mit Gegenständen.

„Wir wissen nicht, wie es dazu kommen konnte“

Mit 15 Jahren Gefängnis und anschließender Sicherheitsverwahrung bekam er die Höchststrafe. „Ein angemessenes Urteil“, findet Igor Matviyets, Mitglied der jüdischen Gemeinde in Halle und SPD-Politiker, den der KURIER vor Ort erreichte. Dennoch, sagt er, würde dies nichts an der Bedrohungslage für ihn, die Betroffenen und andere Gruppen ändern. „Einer ist jetzt zwar im Gefängnis, aber seine Motive sind nicht weg, die menschenfeindliche Ideologie steckt in vielen weiteren Köpfen drinnen.“ Mit dem Gerichtsurteil sei zwar die juristische Aufarbeitung beendet worden, doch die gesellschaftliche stehe aus. Es blieben viele Fragen zum Radikalisierungsprozess offen, kritisiert Matviyets. „Wir wissen nicht, wie es dazu kommen konnte.“

Unter die biografischen Daten des Attentäters – 20 bis 30 Jahre alt, bei den Eltern lebend, ohne Ausbildung, Studium abgebrochen – würden Tausende junge Menschen in Sachsen-Anhalt fallen, aber nicht alle radikalisierten sich. „Deswegen stellt sich die Frage nach dem Warum? Man muss doch feststellen, welcher Typ dafür anfällig ist“, sagt Matviyets.

Was bekannt ist: Das Internet spielte für den Attentäter eine große Rolle. Dort spielte er mit Vorliebe Ego-Shooter und war auf Plattformen aktiv, wo man rechtsextreme, antisemitische und pornografische Inhalte veröffentlichen kann. Mit wem er sich vernetzte, welche Inhalte er teilte, und von wem er Geld erhielt (im Verhör gab er eine Spende aus dem Netz an Anm.), ist bis heute nicht bekannt. Das wurde auch während des Prozesses kritisiert. Die Beamten des Bundeskriminalamts konnten keine Fragen zu den Internet-Kontakten oder zu den Plattformen beantworten, die der Attentäter nutzte.

Matviyets erwartet sich, dass die Politik präventiv handelt und mehr in Forschung investiert, die sich damit beschäftigt, wie Rechtsextreme ihr Weltbild formen. „Wenn man nicht weiß, wie das passiert ist, kann man schlecht Instrumente finden, die das zukünftig verhindern.“

Sandra Lumetsberger, Berlin