Seehofers wundersame Wandlung: Ex-Hardliner als Migranten-Fürsprecher
Von Irene Thierjung
Fünf Seiten mit unverbindlichen Formulierungen: So sieht das derzeit meistdiskutierte Papier in der europäischen Migrationspolitik aus. In einer gemeinsamen Erklärung haben die Regierungen Deutschlands, Frankreichs, Italiens und Maltas Ende September vereinbart, aus Seenot gerettete Migranten künftig auf ihre Länder zu verteilen.
Der deutsche Innenminister Horst Seehofer, Initiator des nach dem Unterzeichnungsort Malta-Vereinbarung genannten Deals, sieht darin ein „Pilotprojekt“ für die gesamte EU.
Die Mitgliedsstaaten streiten seit dem Flüchtlingssommer 2015 über eine einheitliche Migrations- und Asylpolitik – mit dem Effekt, dass Haupt-Ankunftsländer wie Italien, Griechenland, Spanien, Malta oder Zypern weiter die Hauptlast der Migration aus Afrika und Nahost tragen.
Bei jedem Rettungsschiff im Mittelmeer wird aufs Neue tagelang diskutiert, wer die Menschen an Bord aufnimmt.
Bereits zuletzt waren das meist Deutschland und Frankreich.
Beim EU-Innenministertreffen in Luxemburg, genauer gesagt beim gemeinsamen Mittagessen, wollte Seehofer am Dienstag seine Kollegen überzeugen, sich dem Kreis der Aufnahmewilligen anzuschließen. „Auf hoher See gibt es akute Notfälle“, sagte er. „Und da, glaube ich, haben wir auch die Verpflichtung, Menschen vor dem Ertrinken zu retten.“
Vom Saulus zum Paulus?
Bis vor kurzem hatte Seehofer einen deutlich härteren Kurs gegenüber Migranten gefahren. Im Sommer 2018 stritten der CSU-Politiker und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) wochenlang, ob Flüchtlinge, die bereits in einem anderen EU-Land registriert sind, an der deutschen Grenzen zurückgewiesen werden sollen. Während Seehofer dies vehement einforderte, pochte Merkel auf eine gesamteuropäische Lösung - der Streit drohte die Koalition zu sprengen. Am Ende einigte man sich auf die Errichtung von Transitzentren an der Grenze.
Laut deutschen Medien hat Seehofers Schwenk keine ideologischen, sondern pragmatische Gründe. Sein Hauptziel sei die Aufrechterhaltung des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei, das seit 2016 größere Migrationsströme verhindert hat, indem Ankara mehr als sechs Milliarden Euro dafür erhielt, seine Grenzen zu schließen und illegal nach Europa eingereiste Migranten zurückzunehmen.
Für eine Verlängerung des Deals müssen die EU-Länder wohl neuerlich viel Geld in die Hand nehmen, die Aufnahme einiger hundert Flüchtlinge im Jahr durch Deutschland und Frankreich soll Beobachtern zufolge die Bereitschaft der EU-Partner erhöhen. Manche Kommentatoren argumentieren auch, dass Seehofer wohl eingesehen habe, dass ein allzu harter Migrationskurs vor allem der rechten AfD nützt.
Seehofers Chancen, eine kritische Zahl an Mitstreitern für seinen neuen, moderaten Kurs zu gewinnen und so einem EU-weiten Verteilungsmechanismus den Weg zu ebnen, waren allerdings gering. Beschlüsse werde es keine geben, sagte er vor dem Treffen. Laut Frankreichs Europa-Staatssekretärin, de Montchalin, gehe es erst einmal um eine neue Dynamik.
Allen voran die Visegrad-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn lehnen eine Quotenregelung klar ab, ebenso Österreich. Vage Zustimmung kam aus Finnland: Eine Übergangslösung könne ein Schritt sein, um Vertrauen zwischen den Staaten zu schaffen.
Mit Blick auf die vielen Zögernden ist in der Malta-Vereinbarung von Freiwilligkeit die Rede. Das Abkommen gilt zudem nur sechs Monate und kann einseitig gekündigt werden, sollte sich herausstellen, dass die Flüchtlingszahlen wieder steigen.
Vor allem aber umfasst der Deal nur einen kleinen Teil der ankommenden Migranten: Menschen, die auf der sogenannten Zentralen Mittelmeerroute aus einer Notsituation gerettet und nach Italien oder Malta gebracht wurden.
Heuer erreichten nach UN-Angaben rund 10.000 Menschen die zwei Länder über das Meer, nur ein geringer Teil wurde tatsächlich aus Seenot gerettet. Deutschland nahm in den vergangenen 14 Monaten laut Seehofer 225 dieser Menschen auf. „Dass wir wegen einer solchen Zahl eine solche Debatte führen, ist schade, vielleicht sogar beschämend“, sagte er.
Brennpunkt Ägäis
Deutlich mehr Menschen erreichen Griechenland und Zypern über die Östliche Mittelmeerroute. Heuer waren es laut UNO gut 45.000, allein in der Vorwoche kamen 2.200 Menschen von der Türkei kommend in der Ägäis an.
Die Lager auf den griechischen Inseln sind heillos überfüllt, die hygienischen Zustände katastrophal. Griechenland, Zypern und Bulgarien drangen daher in Luxemburg auf einen Verteilungsmechanismus und - im Einklang mit Seehofer - auf den Fortbestand des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei.
Dieses wurde zuletzt immer brüchiger, Präsident Erdogan drohte jüngst sogar damit, die Grenzen zur EU zu öffnen. Eine Drohung, die angesichts der Kriegsgefahr durch den bevorstehenden türkischen Einmarsch in Nordsyrien zusätzliche Brisanz erhält.