Rebellenvormarsch in Äthiopien: Mit dem Rücken zur Wand
Addis Abeba hält den Atem an. Der Lärm von kreisenden Militärhubschraubern ist in Teilen der Stadt zu hören. Unsicherheit und Angst bestimmen den Alltag in Äthiopiens Hauptstadt. Aus der angrenzenden Region Amhara fliehen Menschen vor der Gewalt. Nach einem Jahr ist der Krieg, der in der nördlichen Region Tigray begann, im Herzen des zweitgrößten Landes in Afrika angekommen.
So wie viele andere nahm beispielsweise ein lokaler Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) gleich fünf Familienmitglieder auf, die vor heftigen Kämpfen in der Stadt Dessie in die Hauptstadt geflohen sind. Auch Menschen aus den umkämpften Regionen Tigray, Afar und Oromia brachten sich nach Addis Abeba in Sicherheit. Aber nach 12 Monaten Konflikt im eigenen Land stehen auch in der Hauptstadt die Menschen ökonomisch mit dem Rücken zur Wand, sagt Michael Tröster, der Leiter der FES in Äthiopien. Angesichts der galoppierenden Inflation sind Alltagsgüter für viele Menschen kaum noch bezahlbar.
Rebellen nur noch 400km entfernt
Nach Angaben der nationalen Statistikbehörde lag im September die Inflationsrate bei 34,8 Prozent, bei Lebensmitteln sogar bei 42 Prozent. Die Supermarktregale sind leer gefegt, für viele Menschen sind mittlerweile sogar Grundnahrungsmittel wie Zwiebeln, Tomaten oder Bananen zu teuer. Die Menschen fürchten um ihre Existenz.
So auch die 26-jährige Beamtin und zweifache Mutter Selamawit. Gemeinsam verdienen sie und ihr Mann etwa 16.200 Birr (rund 293 Euro). Bereits vorher war es nicht einfach, die Familie damit durchzubringen. Nun liegt sie mit den Abzahlungen ihrer Hypothek im Verzug und hat Angst ihr Zuhause zu verlieren. Selamawit hofft noch auf einen Sieg der Armee über die Rebellen der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF).
Aber das Militär ist in der Defensive, ein Rebellenbündnis bestehend aus TPLF und der Oromo Liberation Army (OLA) auf dem Vormarsch. Im Norden stehen die Rebellen weniger als 400 Kilometer vor der Fünf-Millionen-Hauptstadt, im Osten wollen sie die Versorgungsroute der Stadt zum wichtigen Hafen im benachbarten Dschibuti kappen. Wann fällt die Hauptstadt, fragen sich die Menschen. Geht es um Tage, Wochen oder Monate? Und wie geht es dann weiter? Und mit wem?
Es ist ein spektakulärer Zusammenbruch eines Landes, das sehr lange ein Stabilitätsanker in Ostafrika war. Seit 2011 lag das jährliche Wirtschaftswachstum bei durchschnittlich 9,4 Prozent. Es folgte der Aufstieg des heutigen Regierungschefs Abiy Ahmed. Der vergleichsweise junge Abiy wollte in dem Land mit 110 Millionen Einwohnern den demokratischen und wirtschaftlichen Wandel vorantreiben. Der Sohn einer Christin und eines Muslimen aus Oromo sollte für politischen Ausgleich zwischen den Volksgruppen im Land sorgen. Für seine Reformen und den Frieden mit dem ehemaligen Erzfeind Eritrea wurde Abiy 2019 mit dem Friedensnobelpreis und großzügiger internationaler Unterstützung belohnt. Am Ausgleich im eigenen Land scheiterte er.
Konflikt begann vor einem Jahr
Anfang November 2020 begann der Konflikt in Tigray. Hintergrund waren jahrelange Spannungen zwischen der Regierung in Addis Abeba und der TPLF - denn diese hatte Äthiopien gut 25 Jahre lang dominiert, bis Abiy 2018 an die Macht kam. Die TPLF führte eigenmächtig Wahlen in Tigray durch und griff kurz danach eine Militärbasis an. Der Regierungschef begann eine Offensive mit der Hilfe Eritreas. Doch viele hochrangige Offiziere der Armee liefen zur TPLF über. Die Regierung fuhr immer schwerere Geschütze auf, ohne Erfolg. Dann begann Addis Abeba eine de facto Blockade von Tigray.
Der Konflikt hat zu einer schweren humanitären Krise im Land geführt, wo mittlerweile Millionen von Menschen auf Hilfe angewiesen sind. Der international gefeierte Reformer Abiy wurde zum Außenseiter und steht wegen Menschenrechtsverletzungen schwer in der Kritik. Westliche Geldgeber, allen voran die USA, haben viele Zahlungen eingestellt.
Von der positiven Energie und Aufbruchstimmung von 2018 sei heute nicht mehr viel zu spüren, sagt eine deutsche Architektin, die seit 2016 ein Architekturbüro in Addis Abeba leitet und aufgrund von Sicherheitsbedenken nicht namentlich genannt werden möchte. Man merke, dass die Menschen in der ethnisch gemischten Hauptstadt mittlerweile anders miteinander umgingen, sagt sie. Viele Gespräche seien hoch emotional, die Menschen in ihrem Umfeld seien ausgezehrt. Seit dem Aufruf der Behörden sich zu bewaffnen und die Stadt zu verteidigen, wisse keiner mehr so Recht, wie es weitergeht.