Patt in Israel: Alles hängt an Lieberman
Von Norbert Jessen
Erste Hochrechnungen am Wahlabend liegen in Israel traditionell falsch. Aber in der Nacht zum Mittwoch zeigten sie ein klares Ergebnis: Premier Benjamin Netanjahu erreicht auch mit allen verbündeten rechten Ablegern nicht die für ihn unumgängliche Mehrheit von 61 Stimmen der 120 Sitze. Doch im Vergleich zu den Wahlen vor fünf Monaten konnte Avigdor Liebermans Beytenu-Partei ihren Anteil auf 10 Sitze verdoppeln.
Lieberman steht rechts von Netanjahus Likud, weigert sich aber in eine Koalition unter Führung Netanyahus beizutreten. Soll heißen: Das seit Jahrzehnten bestehende Unentschieden in der israelischen Politik zwischen den Blöcken von Links und Recht ermöglicht diesmal nur eine Regierung, wenn eine der Seiten alte Verweigerungspositionen aufgibt.
Alles ist möglich – oder unmöglich. Auch dritte Neuwahlen in einem Jahr. Ex-Armeechef Benny Gantz und seine Blau-Weiß-Partei, die größten Herausforderer, liegen gleichauf mit Netanjahus Likud. Bei einer leichten Führung, die am Abend allerdings noch unsicher war. Die linksliberalen Partner haben es zwar – so die ersten meist falschen Hochrechnungen – in die Knesset geschafft.
Aber auch mit der Vereinten Arabischen Liste wäre die Bildung einer linken Koalition unmöglich. Wie erwartet und wie nach den letzten Wahlen entscheiden die Beytenu-Stimmen Liebermans, wer die Regierung bildet. Lieberman am Wahlabend vor dem jubelnden Fußvolk seiner Partei: „Was wir vor den Wahlen versprochen haben, halten wir nach den Wahlen.“
Was aber trotz der verdoppelten Zahl an Sitzen im Parlament äußerst schwierig wird. Durch Liebermans Bedingungen mit dem klaren Versprechen an seine Wähler: Wir treten nur in eine Große Koalition Likud/Blau-Weiß ein ohne das bisherige Zünglein an der Wahl-Waage Israels. Und das sind die orthodoxen Parteien. Für Netanjahu eine unannehmbare Bedingung.
Netanjahu vor Gericht
Er fühlt sich seinen treuesten frommen Verbündeten unabdingbar verpflichtet. Blau-Weiß aber ging in die Wahlen mit dem Versprechen: Keine Koalition mit einem Premier, der vor drei Klageschriften wegen Bestechung, Betrug und Veruntreuung steht.
Schon am 2. Oktober muss Netanjahu zu einer Anhörung bei Avichai Mandelblit, der Generalstaatsanwalt will nur wenige Wochen später die endgültige Entscheidung über eine Anklageerhebung treffen. Netanjahu kann die Anhörung aus dringenden Termingründen bis nach den jüdischen Feiertagen auf Oktober verschieben. Doch die von ihm angestrebte Immunität durch Beschluss des Parlaments wird nach diesem Ergebnis kaum möglich sein.
Bleibt noch die Möglichkeit einer Entscheidung der Likud-Partei, auf Netanjahu an der Spitze zu verzichten. Dann wäre sogar eine Große Koalition „ohne Religiöse und ohne Lieberman möglich. Doch im Gegensatz zu den linken Parteien, die ihre Vorsitzenden wie Krawatten wechseln, ist ein Absetzen des Likud-Chefs nahe einem Sakrileg.
Netanjahu zeigte noch vergangene Woche, wie er unter Druck trotz Staatsmann-Image aus der Hüfte schießen kann. Nachdem eine Wahlrede im Süden durch Raketen aus Gaza abgebrochen werden musste, wollte er mit voller Bomben-Breitseite reagieren. Das wurde von der Übergangsregierung dann doch gestoppt.
Nichts ist unmöglich. Aber alle Spekulationen erschienen am Abend nach den Wahlen eher unmöglich. Eine wichtige Aufgabe fällt diesmal dem Präsidenten Reuven Rivlin zu. Er hat aus den letzten Wahlen gelernt. Das Mandat zur Regierungsbildung will er auch diesmal nicht automatisch der größten Partei übertragen. Und nur einem Kandidaten, der das Mandat auch zurückgibt, wenn er erfolglos bleibt.
Eine Flucht in Neuwahlen wird so schwierig. Aber nicht unmöglich. Und alles noch unter dem in Israel strengen Vorbehalt: Was die ersten Hochrechnungen am Abend sagen, kann am Morgen danach bereits ganz anders aussehen. Nach den Wahlen im April dauerte es Wochen, bis das echte Ergebnis vorlag.