Papst-Berater: "Zölibat nicht automatisch schuld an Missbrauch"
Von Nina Oezelt
Noch immer kommt es zu neuen Enthüllungen, wenn es um Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche geht. In Polen sorgte erst kürzlich eine TV-Dokumentation für Furore: In dieser wird dem verstorbenen und heiliggesprochenen Papst Johannes Paul II. die Vertuschung von sexuellem Missbrauch vorgeworfen. Einen Priester soll er nach Österreich in die niederösterreichische Gemeinde Gaubitsch geschickt haben. Hans Zollner ist Papstberater und Leiter des Kinderschutzzentrums, Theologe und Psychologe. Im KURIER-Interview spricht er Klartext zu vielen Punkten.
Sie gelten als Papstberater und waren Gründungsmitglied der bislang seit neun Jahren bestehenden vatikanischen Kinderschutzkommission. Was wurde bisher geleistet?
Das Thema Missbrauchsaufarbeitung steht in Mitteleuropa seit 2010 in der Kirche auf der Tagesordnung. In den vergangenen zehn Jahren sind viele wichtige Gesetzesänderungen eingeführt worden und es wurde von der obersten kirchlichen Behörde klar gemacht worden, dass die Kirche in allen Ländern diese Gesetzgebung anerkennen muss. Und es gibt sehr viel mehr Schulungen zur Prävention.
Die Missbrauchsskandale sind an unterschiedlichen Orten publik geworden: Da gab es etwa die investigativen Spotlight-Veröffentlichungen des Boston Globe Boston (2002). Wann ist ihnen die Dimension bewusst geworden?
Tatsächlich dank dieser Veröffentlichung. Obwohl ich als Psychologe und Psychotherapeut mit sexualisierter Gewalt in Familien und in Beziehungen konfrontiert gewesen bin, habe ich die Dimension, die die Kirche betrifft, erst erfasst, als der Boston Globe die massiven Zahlen von Missbrauchsfällen in der dortigen Diözese publiziert hat und dann der erste große internationale Aufschrei folgte.
Es gab bereits in den Neunzigern einen Fall mit dem österreichischen Kardinal Groer. Damals wandte sich ein Opfer an das Magazin Profil und weitere Opfer haben sich danach gemeldet. Finden Sie es wichtig, dass diese Fälle an die Öffentlichkeit kommen?
Natürlich. Das ist eine der Grundvoraussetzungen dafür, dass es Gerechtigkeit gibt. Betroffene von Missbrauch erzählen oft, dass sie sich ermutigt gefühlt haben, dass sie nicht die Einzigen sind. Viele werden aber auch nie reden.
In den Ländern wird unterschiedlich mit Missbrauchsskandalen umgegangen. Wie gelingt das in Österreich?
Eine kluge Entscheidung im Jahr 2010 war die Errichtung der Opferschutzanwaltschaft unter der Leitung von Waltraud Klasnic. Die Opfer bekamen finanzielle Zuwendungen oder therapeutische Angebote. Das war wichtig für die österreichische Kirche, weil alle Orden und Bischöfe mitmachen mussten. In Deutschland passiert oft das Gegenteil, wo die Zersplitterung den Eindruck erweckt, dass das eine Never-Ending Story ist: Nach jedem neuen Bericht von 27 deutschen Diözesen denkt man, es hört nie auf.
Akten der Missbrauchstäter werden noch immer nicht für unabhängige Untersuchungen zur Verfügung gestellt. Wie sehen Sie das?
Es sind falsche Erwartungen, dass Dokumente da sauber und nachvollziehbar geführt worden wären. Das ist in den 60ern und 70ern weder im kirchlichen, schulischen, noch in vielen staatlichen Stellen der Fall gewesen. Aber die grundlegende Position des Vatikans ist seit 2011 bzw. 2019: Alle Unterlagen, die rechtmäßig herausgegeben werden können und die rechtmäßig angefordert werden können, müssen herausgegeben werden
Der spätere Papst Johannes Paul II. soll als Krakauer Erzbischof pädophile Priester geschützt haben. Schon als Kardinal soll Karol Józef Wojtyla Vorfälle vertuscht haben. Einen Priester schickte er nach Österreich in eine Gemeinde in Niederösterreich – mit einem Empfehlungsschreiben.
In diesem Fall geht es um den späteren Papst in seiner Rolle als Kardinal von Krakau. Die Erwartung, dass alle kirchlichen Amtsträger auf 50 Jahre zurück konsequent auf Missbrauch reagiert hätten, halte ich für nicht realistisch. Unsere Erwartungen diesbezüglich sind enttäuscht worden. Dass jemand einen gravierenden Fehler macht in so einer absolut schrecklichen Sache, ist furchtbar. Meine Bestürzung ist auch, dass man diese Fehler nicht zugibt. Johannes Paul II. ist tot und kann sich selbst nicht mehr dazu äußern. Bevor man spekuliert, sollte man die Ergebnisse der unabhängigen Historikerkommission abwarten. Wenn sich herausstellen sollte, dass er tatsächlich so gehandelt hat, dann muss man es zugeben, da braucht man dann nicht drum nicht herumreden.
Was genau lernen Kirchenvertreter, wenn sie bei Ihnen weitergebildet werden?
Es werden Themen angegangen wie: Was ist Missbrauch? Welche Formen von Missbrauch gibt es? Also sexuell, körperlich, emotional, psychisch? Was macht das mit den Betroffenen von Missbrauch? Welche Auswirkungen hat das? Wie müssen wir mit Tätern umgehen, damit sie nicht weiter missbrauchen? Es wird auch erarbeitet, welche Institutionen und welche Strukturen wir wollen. Wie sind da die Kontrollmechanismen eingebaut, damit diese nicht nur an der jeweiligen Person hängen bleiben
Inwiefern spielt das Zölibat eine Rolle?
Wissenschaftlichen Berichte aus der ganzen Welt haben immer einen Satz gemeinsam: Zölibatäres Leben führt nicht automatisch zu Missbrauch. Aber dann, wenn es über Jahre hinweg zu einer Vereinsamung, zu einer emotionalen Verkümmerung, kommt, wächst das Risiko. Sonst würde auch nicht das Durchschnittsalter der Priester, die missbrauchen, bei 39 Jahren liegen. Es sind nicht die Leute, die mit 25 Jahren aus dem Priesterseminar kommen und dann anfangen, Kinder zu missbrauchen. Das ist eine Fantasie, die mit den empirischen Daten nicht übereinstimmt.
Sie haben den ersten Kinderschutz-Gipfel 2019 im Vatikan organisiert. Der Papst in einem Schreiben strengeres Vorgehen angekündigt. Was ist geplant?
Es geht eigentlich um die Anwendung dessen, was schon beschlossen ist. Er bezieht sich auf einen Gesetzestext von 2019, der die Rechenschaftspflicht der Bischöfe untereinander definiert. Wenn Bischöfe oder Provinziale (Ordensvorsteher) davon Kenntnis bekommen, dass das einer von den Priestern oder den Ordensleuten unter ihrer Autorität eines Missbrauchs angeklagt ist und sie im Vorfeld nicht entsprechend dem kirchlichen Vorgehen gehandelt haben, dann können sie angezeigt und abgesetzt werden.
Das heißt, dass alle Mitwissenden auch Mittäter sind?
In dem Sinne, dass sie ihre Amtspflichten verletzt, haben bzw. dass sie vertuscht haben oder nachlässig waren.
Wäre es denkbar, Whistle-Blower Hotlines für Missbrauchsfälle im Vatikan einzuführen?
Ja. Es gibt genügend Whistleblower für andere Bereiche, auch in der Kirche. In einigen Ländern haben die Bischofskonferenzen so etwas bereits auch eingeführt.