Netanjahu bei Scholz in Berlin: Heikler Besuch in heiklen Zeiten
Von Caroline Ferstl
Israel stecke in einer schrecklichen Krise. Die aktuelle Regierung versuche, das Land "von einer lebendigen Demokratie in eine theokratische Diktatur zu verwandeln". Das Zitat stammt aus einem offenen Brief, den 1.000 israelische Künstler und Intellektuelle, darunter der weltbekannte Schriftsteller David Grossman, unterzeichnet haben, und in dem sie den deutschen Kanzler Olaf Scholz (SPD) aufrufen, Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu nicht zu empfangen. Netanjahu ist am Mittwochabend nach Berlin gereist – zum ersten Treffen der beiden als Regierungschefs.
Der Besuch findet zu einem heiklen Zeitpunkt statt: Seit Wochen gehen in Israel Hunderttausende auf die Straße und demonstrieren gegen die umstrittene Justizreform der rechts-religiösen Regierung, die diese Woche bereits teilweise vom Parlament gebilligt worden ist. Diese sieht etwa vor, dass Richter von der Regierungskoalition ernannt werden können und das Parlament mit einfacher Mehrheit auch dann Gesetze verabschieden kann, wenn sie mit den verfassungsmäßigen Grundgesetzen nicht übereinstimmen. Kritiker sehen dadurch die Gewaltenteilung in Gefahr.
Selbst Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, den Netanjahu am Donnerstag trifft, hat sich bereits besorgt über die Reform geäußert. Der von der Regierung geplante "Umbau des Rechtsstaates" bereite ihm Sorge - "gerade weil wir Deutsche immer mit großer Bewunderung auf den starken und lebendigen Rechtsstaat in Israel geschaut haben", sagte er vergangenen Freitag in Berlin.
Die Sicherheit Israels, eine "deutsche Staatsräson"
Kein guter Zeitpunkt, so Kritiker, für ein Treffen zwischen Deutschland und Israel, dessen Verhältnis immer geprägt bleiben wird von der historischen Verantwortung an der Shoah, dem Massenmord von Nazi-Deutschland an sechs Millionen Juden. Alt-Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte 2008 vor der Knesset in Jerusalem die Sicherheit Israels zur "deutschen Staatsräson" erklärt – trotz Unstimmigkeiten mit Netanjahu in Bezug auf Israels Siedlungspolitik und dem Umgang mit dem Iran.
Unter Merkel entfaltete Deutschland ein gutes Verhältnis zu Israel und gleichzeitig eine akzeptierte, finanzielle Unterstützung für die Palästinenser. Acht Mal hat sie in ihren 16 Jahren Kanzlerschaft Israel besucht. Scholz hingegen setzte das Vermächtnis Merkels bereits im vergangenen Sommer kurzzeitig aufs Spiel, als er dem Palästinenserpräsidenten Mahmoud Abbas bei einem Besuch in Berlin einen umstrittenen Holocaust-Vergleich durchgehen ließ: Israel habe "seit 1947 50 Massaker in 50 palästinensischen Orten begangen. 50 Massaker, 50 Holocausts". Eine Zurückweisung Scholz’ folgte erst einen halben Tag später.
Das Treffen mit Netanjahu könnte für Scholz wieder heikel werden: Zwar sollen vor allem sicherheitspolitische Aspekte für Israel und die Region im Fokus stehen, ein Besuch an der Holocaust-Gedenkstätte am Bahnhof Grunewald, von wo aus 1941 und 1942 etwa 10.000 Juden mit Zügen der Reichsbahn in Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslager der Nazis gebracht wurden, steht am Programm; die Öffentlichkeit erwartet aber auch kritische Worte an Netanjahu. Als dieser unlängst in Rom zu Besuch war, wurde er von der dortigen jüdischen Gemeinde zur Rede gestellt.
Mehr als 3.000 Polizisten werden den Besuch absichern, es gilt die höchste Sicherheitsstufe. Für Donnerstag sind mehrere Proteste in Berlin angekündigt. Auch vor Netanjahus Abflug vom Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv gab es vereinzelte Proteste.
Aus den USA, dem wichtigsten Verbündeten Israels, kam bisher übrigens keine Einladung an den Premier. Stattdessen war Außenminister Antony Blinken Ende Jänner nach Israel gereist.