Mit Merkel wurde die Macht weiblich, doch was hat sie für Frauen erreicht?
Als Angela Merkel am 22. November 2005 im Deutschen Bundestag ihre Hand hebt, die Eidesformel mit dem religiösen Zusatz "So wahr mir Gott helfe" spricht, sitzen auf der Tribüne einige Frauen, die ihre Freude kaum verbergen können, erzählen jene, die dabei waren.
Vor 16 Jahren wurde die erste Kanzlerin Deutschlands gewählt – eine aus den Reihen einer Partei, die nicht für Frauenförderung bekannt war und mit ihr fremdelte: Merkel war Frau, ostdeutsch, evangelisch und hatte zuvor Karriere als Physikerin gemacht. Sie wurde als "Fremdkörper" empfunden, stellte ihre Biografin Jaqueline Boysen einmal fest.
Angela Merkel hatte keine leichte Zeit. Intern belächelt, von außen mit Überschriften versehen: "Mädchen", "Miss Germany", "Mutti". Und mit Erwartungen, dass durch die erste Frau an der Spitze mehr nachfolgen, dass sie Ungleichheiten ausgleicht.
Welche Bedeutung hat sie für nachfolgende Generationen?
Seit klar ist, dass die Kanzlerin aufhört, wird Bilanz gezogen: Was hat sie für Frauen erreicht? Welche Bedeutung hat sie für nachfolgende Generationen? Der KURIER hat mit drei Politikerinnen gesprochen, die sie aus unterschiedlicher Perspektive erlebt haben (siehe unten). Ihre Bilanz schwankt zwischen Respekt, Bewunderung und Enttäuschung – darüber, dass sich Merkel erst gegen Ende ihrer Amtszeit für die Gleichstellung aussprach, die Frauenquote in Vorständen zur Tagesordnung gemacht hat und sehr viele Baustellen bleiben.
Merkel selbst hat sich zu ihrer Rolle selten geäußert. Dass Deutschland ihretwegen kein Musterland ist, ließ sie vor einiger Zeit wissen: "Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Aus der Tatsache, dass es mich gibt, darf kein Alibi werden."
Claudia Roth: "Sie hat ihr Geschlecht neutralisiert"
Die Grünen-Politikerin empfand es als "Durchbruch", dass eine Frau aus den Reihen der CDU Kanzlerin wurde, ihr Frausein hätte Angela Merkel aber mehr thematisieren können.
"Kinder, Küche, Kirchenweihe" – als Claudia Roth, Jahrgang 1955, aufwuchs, war es nicht die Rolle der Frau „sich auf allen Ebenen einzubringen“. Roth hat dafür gekämpft. „Einbruch in die Männerwelt“, stand auf den Plakaten der Grünen, denen sie 1987 beitrat. Sie wollten gleichberechtigte Teilhabe auf allen Ebenen – auch in der Regierungsverantwortung. "Die haben uns behandelt, wie einen Irrtum in der Geschichte", sagt sie über die damalige Stimmung im Bundestag.
Dass 2005 eine Frau aus einer konservativen Partei Kanzlerin wurde, empfand sie als "Durchbruch". Zwar endete damit die rot-grüne Koalition, aber "es war ein Neubeginn mit einer sehr starken Frau, die extrem unterschätzt worden ist. Sie wollte Macht ausüben und konnte es auch".
Mit Angela Merkel wurde Macht weiblich, wobei sie ihr Frausein mehr zum Thema hätte machen können, findet Roth, die stilistische Parallelen zu Margaret Thatcher ortet. "Merkel hat ihr Geschlecht neutralisiert – mit einer Hose und immer gleichen Jacken. Das war ihr Kampfdress." Dazu kommt ein weiteres Markenzeichen: "Wenn schwierige Verhandlungen anstanden und sie mit der Tasche in der Hand kam, war das für mich ein Zeichen: Macht euch keine Sorgen, ich halte das zusammen."
Nicht klein zu kriegen
So schritt die Kanzlerin auch durch den Bundestag, wo man sie bei der Regierungsbefragung in die Zange nehmen wollte, was bei ihrer stoischen Gelassenheit nur bedingt funktionierte, sagt Roth: "Merkel kriegt niemand klein." Auch nicht die AfD, deren Angriffe sie "mit einer mutigen Unerschütterlichkeit abgewehrt hat".
Genauso wie Gegner in ihrer eigener Partei. Bei Verhandlungen war sie "besser als alle anderen vorbereitet und fokussiert". Das erfuhren die Grünen, als sie mit ihr eine Regierung verhandeln wollten: "Es ist nicht nur einmal passiert, dass sie zu Teilen von uns gesagt hat: Aber das steht in Ihrem Programm ganz anders."
Schade findet Roth, dass Merkel in ihrer Kanzlerinnenschaft frauenpolitisch und und für eine vielfältige gerechte Gesellschaft wenig bewegt hat, etwa bei der Lohnungleichheit und Frauenquote: "Da war sie keine Vorkämpferin." Vielleicht auch, "um die sehr konservativen Kreisen nicht völlig gegen sich aufzubringen".
Elisabeth Kaiser: "Ihre Herkunft hat sie nie hervorgehoben"
Erst spät wurde Merkel zur "ostdeutschen Bürgerin", ihre Erfahrung hatte sie früher einbringen können, findet die SPD-Abgeordnete.
Vor 16 Jahren durfte Elisabeth Kaiser zum ersten Mal wählen. Gut erinnert sie sich noch an die Debatten: "Kann die das?" hat es über Angela Merkel geheißen. Für ihre Wahlentscheidung spielte es aber keine Rolle, ob eine Kandidatin oder ein Kandidat am Zettel stand, die Politik fand sie wichtiger – und jene der CDU hat die heute 34-Jährige nicht überzeugt.
Kaiser, die als Studentin der SPD beitrat, wuchs im thüringischen Gera auf – in Ostdeutschland, genauso wie Angela Merkel. Diese habe sich heuer am Tag der Deutschen Einheit ungewohnt betont als "ostdeutsche Bürgerin" bezeichnet – "vielleicht mit dem Wissen, dass ihre Amtszeit endet", so die SPD-Politikerin. Begonnen habe Merkels Karriere zu einer Zeit, wo es in ihren Kreisen Skepsis gegenüber Ostdeutschen gab. "In der Wahrnehmung war sie eine Kanzlerin der Bundesrepublik. Ihre Herkunft, oder wie sie aufgewachsen ist, hat sie nie hervorgehoben."
Nie deutlich für den Osten eingetreten
Kaiser kann es nachvollziehen: "Als Ostdeutsche und als Frau wurde einem häufig das Gefühl vermittelt, ein Defizit in der Biografie mitzubringen, so in die Richtung: Die hat einen Aufholbedarf und muss zeigen, dass sie Demokratie verstanden hat." Gut möglich, dass sie daher nie so deutlich für den Osten eingetreten ist, so Kaiser. Mit Kommunikation hätte Merkel jedoch ein Zeichen setzen oder in der Frauenpolitik ihre Erfahrung als Ostdeutsche einbringen können, etwa beim Selbstbestimmungsrecht über Abtreibungen. In der DDR war dies straffrei, nach der Wende wurde ein Gesetz geschaffen, das Ärzten verbietet, zu informieren, welche Methoden es gibt – bis heute.
Was Merkel für Frauen getan hat, ist für Elisabeth Kaiser eher symbolisch: "Sie hat durch ihre Leistung und ihr Handeln sicher Frauen ermutigt, in Führungspositionen zu gehen, eine Gleichstellungspolitik hat sie aber nicht forciert." Immerhin sprach sie sich kürzlich für die Parität, also Gleichstellung, aus – "wohl, um zu zeigen, dass es ihr doch wichtig ist, und für die Frauen in ihrer Partei, damit sie dies selbstbewusst einfordern".
Was man sich von der Kanzlerin abschauen kann? "Sich nicht von Männern unterkriegen lassen, zu den eigenen Positionen stehen und auf seinen Instinkt hören."
Gyde Jensen: "Dürfen uns nicht auf ihr ausruhen"
Für Gleichberechtigung reiche es nicht, wenn es eine Frau an die Spitze schafft, sagt die FDP-Politikerin.
Als Angela Merkel 2005 im Bundestag zur Kanzlerin gewählt wurde, ging Gyde Jensen noch aufs Gymnasium und hat das nicht groß hinterfragt. Heute sitzt sie selbst als Abgeordnete für die FDP im Parlament und findet, dass Merkel neue Standards geschaffen hat. Sie habe nachhaltig dafür gesorgt, dass eine Frau im höchsten Amt als "ganz normal" empfunden wird, sagt die 32-Jährige.
Allerdings hat sich die politische Gesellschaft damit lange zufriedengegeben: "Es wurde nicht ausreichend dafür getan, dass Frauen nachkommen können, die nicht Angela Merkels Charakteristika entsprechen."
Männlich konnotierte Eigenschaften
Denn die Kanzlerin habe auch sehr viele männlich konnotierte Eigenschaften erfüllt. Zwar bezeichnete sich Merkel entgegen früheren Aussagen gegen Ende ihrer Kanzlerschaft als Feministin, aber eine Politik der Gleichberechtigung der Geschlechter wie etwa in Skandinavien praktiziert, habe sie nie verfolgt, so Jensen. "Das sieht man in der CDU, wo sich derzeit wieder nur Männer um den Vorsitz bewerben."
Nicht nur dort, auch im Bundestag dominieren sie – nur 34 Prozent der Abgeordneten sind weiblich. Das sind zu wenig Frauen, wie überhaupt in Führungspositionen – "daher dürfen wir uns nicht auf Angela Merkel ausruhen", sagt die Abgeordnete. Es brauche einen langen Atem und mehr als eine Person, damit die gläserne Decke Sprünge bekomme.
Jensen selbst ist eine, die es nach oben geschafft hat. 2017 zog sie mit 28 Jahren als jüngste weibliche Abgeordnete ins Parlament ein und leitete in der 19. Wahlperiode den Ausschuss für Menschenrechte. "Mir wurde nie signalisiert, dass ich zu jung bin oder keine Berechtigung hätte, hier zu sein. Angela Merkel hat da ihrerzeit sicher viel mehr aushalten müssen."
Was sie an der Kanzlerin inspirierend findet: "Sie ist sich selbst vollkommen genug, davon könnte die Politik mehr brauchen. Der Ansatz ist ja, zu spiegeln und zu repräsentieren, welche Fragen und Herausforderungen es in der Gesellschaft gibt und dafür Lösungen anzubieten. Das funktioniert nicht auf einem Ego-Trip."